Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Nur Deine zweijährige energische Wohlthätigkeit hat Mathilde der
Straße und dem Bordell entrissen. Sie ist aus einem Schwefclholz-
mädchen eine Conditormamsell geworden!


4.

Meine liebenswürdige Nachbarin litt noch immer an derselben
störenden Schlaflosigkeit und machte oft so fürchterlichen Scandal,
daß sich endlich alle Miether ernstlich darüber beschwerten. Herr
Wonnig hatte daher von seiner Frau den Auftrag erhalten, ihr zu
kündigen, und als er ihr eines Morgens mit dem Kaffee diese frohe
Nachricht überbringen wollte, fand er sie nicht in ihrem Zimmer.
Statt ihrer erschien im Laufe des Vormittags die Polizei, sich nach
ihrem Lebenswandel zu erkundigen. Man hatte sie nämlich des Nachts
auf jugendlichen Irrwegen ertappt und arretirt. Der Polizeisergeant
kannte ihre ganze bisherige Geschichte. Sie war nicht die Wittwe
eines verstorbenen, sondern die geschiedene Frau eines noch lebenden,
jetzt aber pensionirten Professors. Er hatte sie als junger Wittwer,
wo sie sein Dienstmädchen war, geheirathet, fand aber bald, daß sie
für ihn zu ungeschickt, zu ungebildet war und die feine Gesellschaft
sich ihretwegen von ihm zurückzog. Er suchte nach einem Jahre schon
die Scheidung zu bewirken, verheirathete sich wieder und setzte ihr
einen Monatsgehalt aus. Nun gab sie sich aus Verzweiflung dem
Trunke und anderen kleinen Leidenschaften hin. Die Polizei wird
ihr jetzt wohl ein so sicheres Gewahrsam anweisen, daß sie die Be¬
wohner des Wonnig'schen Hauses fernerhin nicht stören wird.

Ihr kleines Zimmer bezog nun die große Familie Wonnig. Ich
sah sie ihre Effecten aus dem Keller heraufbringen. Da unten hat¬
ten sie also bisher im eigenen Hause wohnen müssen. Herr Wonnig
kam jetzt fast alle Morgen zu mir, mich mit einem "meine Frau
sagt" um einen kleinen Vorschuß zu bitten. In ihrem Zimmer sah
es gerade nicht appetitlich aus, denn vier ihrer Kinder waren noch
ganz klein, und die beiden älteren Knaben besuchten auch die Schule
nicht, weil sie ihren Eltern bei der Handarbeit behilflich sein mußten.
Adolph, der älteste, war einer von jenen gewandten Jungen mit so
pfiffigen, listigen Augen, mit so altklugen Redensarten und Manie¬
ren, wie man sie häufig in Berlin findet. Seine Eltern berathschlag¬
ten sich mit ihm über ihre Verhältnisse, wie mit einem Erwachsenen,


45-i-

Nur Deine zweijährige energische Wohlthätigkeit hat Mathilde der
Straße und dem Bordell entrissen. Sie ist aus einem Schwefclholz-
mädchen eine Conditormamsell geworden!


4.

Meine liebenswürdige Nachbarin litt noch immer an derselben
störenden Schlaflosigkeit und machte oft so fürchterlichen Scandal,
daß sich endlich alle Miether ernstlich darüber beschwerten. Herr
Wonnig hatte daher von seiner Frau den Auftrag erhalten, ihr zu
kündigen, und als er ihr eines Morgens mit dem Kaffee diese frohe
Nachricht überbringen wollte, fand er sie nicht in ihrem Zimmer.
Statt ihrer erschien im Laufe des Vormittags die Polizei, sich nach
ihrem Lebenswandel zu erkundigen. Man hatte sie nämlich des Nachts
auf jugendlichen Irrwegen ertappt und arretirt. Der Polizeisergeant
kannte ihre ganze bisherige Geschichte. Sie war nicht die Wittwe
eines verstorbenen, sondern die geschiedene Frau eines noch lebenden,
jetzt aber pensionirten Professors. Er hatte sie als junger Wittwer,
wo sie sein Dienstmädchen war, geheirathet, fand aber bald, daß sie
für ihn zu ungeschickt, zu ungebildet war und die feine Gesellschaft
sich ihretwegen von ihm zurückzog. Er suchte nach einem Jahre schon
die Scheidung zu bewirken, verheirathete sich wieder und setzte ihr
einen Monatsgehalt aus. Nun gab sie sich aus Verzweiflung dem
Trunke und anderen kleinen Leidenschaften hin. Die Polizei wird
ihr jetzt wohl ein so sicheres Gewahrsam anweisen, daß sie die Be¬
wohner des Wonnig'schen Hauses fernerhin nicht stören wird.

Ihr kleines Zimmer bezog nun die große Familie Wonnig. Ich
sah sie ihre Effecten aus dem Keller heraufbringen. Da unten hat¬
ten sie also bisher im eigenen Hause wohnen müssen. Herr Wonnig
kam jetzt fast alle Morgen zu mir, mich mit einem „meine Frau
sagt" um einen kleinen Vorschuß zu bitten. In ihrem Zimmer sah
es gerade nicht appetitlich aus, denn vier ihrer Kinder waren noch
ganz klein, und die beiden älteren Knaben besuchten auch die Schule
nicht, weil sie ihren Eltern bei der Handarbeit behilflich sein mußten.
Adolph, der älteste, war einer von jenen gewandten Jungen mit so
pfiffigen, listigen Augen, mit so altklugen Redensarten und Manie¬
ren, wie man sie häufig in Berlin findet. Seine Eltern berathschlag¬
ten sich mit ihm über ihre Verhältnisse, wie mit einem Erwachsenen,


45-i-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0363" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/180922"/>
              <p xml:id="ID_858" prev="#ID_857"> Nur Deine zweijährige energische Wohlthätigkeit hat Mathilde der<lb/>
Straße und dem Bordell entrissen. Sie ist aus einem Schwefclholz-<lb/>
mädchen eine Conditormamsell geworden!</p><lb/>
            </div>
            <div n="3">
              <head> 4.</head><lb/>
              <p xml:id="ID_859"> Meine liebenswürdige Nachbarin litt noch immer an derselben<lb/>
störenden Schlaflosigkeit und machte oft so fürchterlichen Scandal,<lb/>
daß sich endlich alle Miether ernstlich darüber beschwerten. Herr<lb/>
Wonnig hatte daher von seiner Frau den Auftrag erhalten, ihr zu<lb/>
kündigen, und als er ihr eines Morgens mit dem Kaffee diese frohe<lb/>
Nachricht überbringen wollte, fand er sie nicht in ihrem Zimmer.<lb/>
Statt ihrer erschien im Laufe des Vormittags die Polizei, sich nach<lb/>
ihrem Lebenswandel zu erkundigen. Man hatte sie nämlich des Nachts<lb/>
auf jugendlichen Irrwegen ertappt und arretirt. Der Polizeisergeant<lb/>
kannte ihre ganze bisherige Geschichte. Sie war nicht die Wittwe<lb/>
eines verstorbenen, sondern die geschiedene Frau eines noch lebenden,<lb/>
jetzt aber pensionirten Professors.  Er hatte sie als junger Wittwer,<lb/>
wo sie sein Dienstmädchen war, geheirathet, fand aber bald, daß sie<lb/>
für ihn zu ungeschickt, zu ungebildet war und die feine Gesellschaft<lb/>
sich ihretwegen von ihm zurückzog. Er suchte nach einem Jahre schon<lb/>
die Scheidung zu bewirken, verheirathete sich wieder und setzte ihr<lb/>
einen Monatsgehalt aus. Nun gab sie sich aus Verzweiflung dem<lb/>
Trunke und anderen kleinen Leidenschaften hin. Die Polizei wird<lb/>
ihr jetzt wohl ein so sicheres Gewahrsam anweisen, daß sie die Be¬<lb/>
wohner des Wonnig'schen Hauses fernerhin nicht stören wird.</p><lb/>
              <p xml:id="ID_860" next="#ID_861"> Ihr kleines Zimmer bezog nun die große Familie Wonnig. Ich<lb/>
sah sie ihre Effecten aus dem Keller heraufbringen. Da unten hat¬<lb/>
ten sie also bisher im eigenen Hause wohnen müssen. Herr Wonnig<lb/>
kam jetzt fast alle Morgen zu mir, mich mit einem &#x201E;meine Frau<lb/>
sagt" um einen kleinen Vorschuß zu bitten. In ihrem Zimmer sah<lb/>
es gerade nicht appetitlich aus, denn vier ihrer Kinder waren noch<lb/>
ganz klein, und die beiden älteren Knaben besuchten auch die Schule<lb/>
nicht, weil sie ihren Eltern bei der Handarbeit behilflich sein mußten.<lb/>
Adolph, der älteste, war einer von jenen gewandten Jungen mit so<lb/>
pfiffigen, listigen Augen, mit so altklugen Redensarten und Manie¬<lb/>
ren, wie man sie häufig in Berlin findet. Seine Eltern berathschlag¬<lb/>
ten sich mit ihm über ihre Verhältnisse, wie mit einem Erwachsenen,</p><lb/>
              <fw type="sig" place="bottom"> 45-i-</fw><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0363] Nur Deine zweijährige energische Wohlthätigkeit hat Mathilde der Straße und dem Bordell entrissen. Sie ist aus einem Schwefclholz- mädchen eine Conditormamsell geworden! 4. Meine liebenswürdige Nachbarin litt noch immer an derselben störenden Schlaflosigkeit und machte oft so fürchterlichen Scandal, daß sich endlich alle Miether ernstlich darüber beschwerten. Herr Wonnig hatte daher von seiner Frau den Auftrag erhalten, ihr zu kündigen, und als er ihr eines Morgens mit dem Kaffee diese frohe Nachricht überbringen wollte, fand er sie nicht in ihrem Zimmer. Statt ihrer erschien im Laufe des Vormittags die Polizei, sich nach ihrem Lebenswandel zu erkundigen. Man hatte sie nämlich des Nachts auf jugendlichen Irrwegen ertappt und arretirt. Der Polizeisergeant kannte ihre ganze bisherige Geschichte. Sie war nicht die Wittwe eines verstorbenen, sondern die geschiedene Frau eines noch lebenden, jetzt aber pensionirten Professors. Er hatte sie als junger Wittwer, wo sie sein Dienstmädchen war, geheirathet, fand aber bald, daß sie für ihn zu ungeschickt, zu ungebildet war und die feine Gesellschaft sich ihretwegen von ihm zurückzog. Er suchte nach einem Jahre schon die Scheidung zu bewirken, verheirathete sich wieder und setzte ihr einen Monatsgehalt aus. Nun gab sie sich aus Verzweiflung dem Trunke und anderen kleinen Leidenschaften hin. Die Polizei wird ihr jetzt wohl ein so sicheres Gewahrsam anweisen, daß sie die Be¬ wohner des Wonnig'schen Hauses fernerhin nicht stören wird. Ihr kleines Zimmer bezog nun die große Familie Wonnig. Ich sah sie ihre Effecten aus dem Keller heraufbringen. Da unten hat¬ ten sie also bisher im eigenen Hause wohnen müssen. Herr Wonnig kam jetzt fast alle Morgen zu mir, mich mit einem „meine Frau sagt" um einen kleinen Vorschuß zu bitten. In ihrem Zimmer sah es gerade nicht appetitlich aus, denn vier ihrer Kinder waren noch ganz klein, und die beiden älteren Knaben besuchten auch die Schule nicht, weil sie ihren Eltern bei der Handarbeit behilflich sein mußten. Adolph, der älteste, war einer von jenen gewandten Jungen mit so pfiffigen, listigen Augen, mit so altklugen Redensarten und Manie¬ ren, wie man sie häufig in Berlin findet. Seine Eltern berathschlag¬ ten sich mit ihm über ihre Verhältnisse, wie mit einem Erwachsenen, 45-i-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/363
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/363>, abgerufen am 23.07.2024.