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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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schon' mit der Geschichte der vergangenen Nacht entgegengekommen
und hatte ihn zu mir herein gewiesen, sich zu erkundigen. Ich erzählte
ihm kurz, was ich gesehen, nicht was Mathilde mir erzählt hatte.
Wie undankbar die Menschen sind, rief er aus; diese Mathilde
ist ein armes Mädchen ganz niederen Standes; ich habe sie seit zwei
Jahren beschützt, so zu sagen erzogen, um was Besseres aus ihr zu
machen, und sie macht mir durch ihr verwildertes, unfeines Wesen
und Betragen, durch ihren Ungehorsam immer neuen Kummer. Sie
werden staunen, wenn ich Ihnen bei einer anderen Gelegenheit diese
Geschichte erzähle. Er hatte eben den Hut genommen, um wieder
wegzugehen, als Mathilde, der man wahrscheinlich seine Anwesenheit
bei mir hinterbracht hatte, in's Zimmer und ihm sogleich um den
Hals stürzte. Mädchen, was willst Du? rief er in halb väterli¬
chem Tone, indem er sich mit Mühe losrang und ich mich an seiner
gesteigerten Verlegenheit weidete. Es entstand nun ein Disput zwi¬
schen Beiden; Felir sprach sehr gemessen und leise, während Mathilde
so leidenschaftlich schrie, daß auch die Alte herbeikam, die ich aber
hinauöwies. Mathilde weinte endlich und drückte Felir's Hand, er
zog sie zurück und predigte pathetisch Tugend und gute Sitte. Dabei
betrachtete er Mathilden sehr aufmerksam, ihre noch nicht geordnete
Toilette, ihr zerkratztes Gesicht, das vom Nachtwachen etwas glanz¬
lose Auge mochte ihm nicht gefallen; ich bemerkte, das Aeußere deS
Mädchens machte zum ersten Male einen üblen Eindruck auf ihn,
ich sah deutlich aus seinem Herzen einen vornehmen Ekel in sein
Gesicht steigen, sah ihn auch bald den Hut nehmen und weggehen;
ich wußte, Mathilde hatte ihn zum letzten Male gesprochen. Nach
einigen Tagen erhielt ich von ihm folgenden Brief:


"Mein Herr!

"Sie haben mich neulich in einer Situation gesehen, die Sie,
da Ihnen meine Familie und ihre Stellung in der Gesellschaft nicht
unbekannt ist, gewiß in dauerndes Erstaunen versetzt hat. Es ist
mir wichtig und Ihnen gewiß nicht uninteressant, daß ich Sie über
dieses Mißverhältniß aufkläre und Ihnen die Geschichte meiner Be¬
kanntschaft mit jener untergeordneten Sphäre erzähle, in der Sie mich
gefunden haben.

"Ich muß mich aber bei dieser Gelegenheit offen und rückhalts-


schon' mit der Geschichte der vergangenen Nacht entgegengekommen
und hatte ihn zu mir herein gewiesen, sich zu erkundigen. Ich erzählte
ihm kurz, was ich gesehen, nicht was Mathilde mir erzählt hatte.
Wie undankbar die Menschen sind, rief er aus; diese Mathilde
ist ein armes Mädchen ganz niederen Standes; ich habe sie seit zwei
Jahren beschützt, so zu sagen erzogen, um was Besseres aus ihr zu
machen, und sie macht mir durch ihr verwildertes, unfeines Wesen
und Betragen, durch ihren Ungehorsam immer neuen Kummer. Sie
werden staunen, wenn ich Ihnen bei einer anderen Gelegenheit diese
Geschichte erzähle. Er hatte eben den Hut genommen, um wieder
wegzugehen, als Mathilde, der man wahrscheinlich seine Anwesenheit
bei mir hinterbracht hatte, in's Zimmer und ihm sogleich um den
Hals stürzte. Mädchen, was willst Du? rief er in halb väterli¬
chem Tone, indem er sich mit Mühe losrang und ich mich an seiner
gesteigerten Verlegenheit weidete. Es entstand nun ein Disput zwi¬
schen Beiden; Felir sprach sehr gemessen und leise, während Mathilde
so leidenschaftlich schrie, daß auch die Alte herbeikam, die ich aber
hinauöwies. Mathilde weinte endlich und drückte Felir's Hand, er
zog sie zurück und predigte pathetisch Tugend und gute Sitte. Dabei
betrachtete er Mathilden sehr aufmerksam, ihre noch nicht geordnete
Toilette, ihr zerkratztes Gesicht, das vom Nachtwachen etwas glanz¬
lose Auge mochte ihm nicht gefallen; ich bemerkte, das Aeußere deS
Mädchens machte zum ersten Male einen üblen Eindruck auf ihn,
ich sah deutlich aus seinem Herzen einen vornehmen Ekel in sein
Gesicht steigen, sah ihn auch bald den Hut nehmen und weggehen;
ich wußte, Mathilde hatte ihn zum letzten Male gesprochen. Nach
einigen Tagen erhielt ich von ihm folgenden Brief:


„Mein Herr!

„Sie haben mich neulich in einer Situation gesehen, die Sie,
da Ihnen meine Familie und ihre Stellung in der Gesellschaft nicht
unbekannt ist, gewiß in dauerndes Erstaunen versetzt hat. Es ist
mir wichtig und Ihnen gewiß nicht uninteressant, daß ich Sie über
dieses Mißverhältniß aufkläre und Ihnen die Geschichte meiner Be¬
kanntschaft mit jener untergeordneten Sphäre erzähle, in der Sie mich
gefunden haben.

„Ich muß mich aber bei dieser Gelegenheit offen und rückhalts-


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[0356] schon' mit der Geschichte der vergangenen Nacht entgegengekommen und hatte ihn zu mir herein gewiesen, sich zu erkundigen. Ich erzählte ihm kurz, was ich gesehen, nicht was Mathilde mir erzählt hatte. Wie undankbar die Menschen sind, rief er aus; diese Mathilde ist ein armes Mädchen ganz niederen Standes; ich habe sie seit zwei Jahren beschützt, so zu sagen erzogen, um was Besseres aus ihr zu machen, und sie macht mir durch ihr verwildertes, unfeines Wesen und Betragen, durch ihren Ungehorsam immer neuen Kummer. Sie werden staunen, wenn ich Ihnen bei einer anderen Gelegenheit diese Geschichte erzähle. Er hatte eben den Hut genommen, um wieder wegzugehen, als Mathilde, der man wahrscheinlich seine Anwesenheit bei mir hinterbracht hatte, in's Zimmer und ihm sogleich um den Hals stürzte. Mädchen, was willst Du? rief er in halb väterli¬ chem Tone, indem er sich mit Mühe losrang und ich mich an seiner gesteigerten Verlegenheit weidete. Es entstand nun ein Disput zwi¬ schen Beiden; Felir sprach sehr gemessen und leise, während Mathilde so leidenschaftlich schrie, daß auch die Alte herbeikam, die ich aber hinauöwies. Mathilde weinte endlich und drückte Felir's Hand, er zog sie zurück und predigte pathetisch Tugend und gute Sitte. Dabei betrachtete er Mathilden sehr aufmerksam, ihre noch nicht geordnete Toilette, ihr zerkratztes Gesicht, das vom Nachtwachen etwas glanz¬ lose Auge mochte ihm nicht gefallen; ich bemerkte, das Aeußere deS Mädchens machte zum ersten Male einen üblen Eindruck auf ihn, ich sah deutlich aus seinem Herzen einen vornehmen Ekel in sein Gesicht steigen, sah ihn auch bald den Hut nehmen und weggehen; ich wußte, Mathilde hatte ihn zum letzten Male gesprochen. Nach einigen Tagen erhielt ich von ihm folgenden Brief: „Mein Herr! „Sie haben mich neulich in einer Situation gesehen, die Sie, da Ihnen meine Familie und ihre Stellung in der Gesellschaft nicht unbekannt ist, gewiß in dauerndes Erstaunen versetzt hat. Es ist mir wichtig und Ihnen gewiß nicht uninteressant, daß ich Sie über dieses Mißverhältniß aufkläre und Ihnen die Geschichte meiner Be¬ kanntschaft mit jener untergeordneten Sphäre erzähle, in der Sie mich gefunden haben. „Ich muß mich aber bei dieser Gelegenheit offen und rückhalts-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/356>, abgerufen am 23.07.2024.