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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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bist Du so traurig? Da fängt er gar an zu weinen und sagt:
Mathilde, Du bist undankbar, Du weißt, was ich für Dich gethan
habe, was Du warst und jetzt bist, Du vergiltst mir's schlecht. Au¬
ßerdem, daß zwei meiner Freunde Dich neulich in der Nacht auf
einem öffentlichen Balle getroffen, hast Du nun gar einen elenden
Schreiber neben mich gestellt. Zu dem ersten Vorwurf konnte ich
Nichts sagen, eS war wahr; ich hatte es nicht für nöthig gefunden,
Felir Alles zu erzählen, was, wie ich bemerkte, ihn nur stört und
ärgert, wenn er es weiß; als ich aber mitten in seiner langen Pre¬
digt das Wort Schreiber horte, da erwachte das Gefühl meiner
Unschuld, ich fuhr ärgerlich auf ihn los, er solle mir das beweisen.
Die Alte hatte es ihm gesagt, hatte ihn leise zu sich herein gerufen
und BerdachtSgründe angegeben, die ihm beweisend waren. Ich wollte
gleich hinunter zu ihr, Felir hielt mich zurück; das beweise ihm gar
Nichts, sagte er. Wir zankten uns darauf, und er ging fort. Felir
ist sonst jeden Tag zu mir gekommen, heute aber habe ich ihn ver¬
geblich erwartet und dabei immer nachgedacht, ob ich nicht der Alten
die Epistel lesen solle, unterließ es aber aus Furcht vor dein Haus-
sccmdal. Ich konnte vor Unruhe nicht einschlafen. Endlich vorhin
übermannte mich der Aerger, ich schlich mich leise auf den Hof, er¬
wartete die Zeit, wo die Alte ihrem Geliebten die Thüre öffnet und
gewöhnlich sehr stark betrunken ist, und wischte ihr, als sie wieder
nach ihrem Zimmer gehen wollte, ein Tüchtiges aus. Ich hatte ge¬
dacht, es würde sie in der dicken Finsterniß, die uns umgab, so über¬
raschen, daß sie gar nicht merken würde, wenn ich leise die Treppe
wieder hinaufliefe; sie aber fing gleich an zu schreien, hielt mich fest,
und daher die Scene, deren erster Zeuge Sie waren. Ich habe Ih¬
nen die Geschichte nun erzählt, ich weiß nicht, ob Sie mir Recht
geben; das ist mir im Grunde auch ziemlich gleich, nur stillschweigen
müssen Sie davon. Wenn nur mein Felir Nichts erfährt, der so
etwas nicht leiden kann. Morgen treibt ihn seine Sehnsucht gewiß
her; morgen früh hab' ich ihn wieder, das weiß ich. Gute Nacht!
Bei diesen Worten war sie schnell aufgestanden, hatte leise die Thüre
ausgedrückt und war verschwunden. Was hätte wohl ein moralischer
Kleinstädter, oder Jemand, der sich nur in den höheren steifen Krei¬
sen der Berliner Gesellschaft bewegt, und besonders das Wesen die¬
ser Art von Mädchen nicht kennt, zu dieser nächtlichen, ungezwunge-


bist Du so traurig? Da fängt er gar an zu weinen und sagt:
Mathilde, Du bist undankbar, Du weißt, was ich für Dich gethan
habe, was Du warst und jetzt bist, Du vergiltst mir's schlecht. Au¬
ßerdem, daß zwei meiner Freunde Dich neulich in der Nacht auf
einem öffentlichen Balle getroffen, hast Du nun gar einen elenden
Schreiber neben mich gestellt. Zu dem ersten Vorwurf konnte ich
Nichts sagen, eS war wahr; ich hatte es nicht für nöthig gefunden,
Felir Alles zu erzählen, was, wie ich bemerkte, ihn nur stört und
ärgert, wenn er es weiß; als ich aber mitten in seiner langen Pre¬
digt das Wort Schreiber horte, da erwachte das Gefühl meiner
Unschuld, ich fuhr ärgerlich auf ihn los, er solle mir das beweisen.
Die Alte hatte es ihm gesagt, hatte ihn leise zu sich herein gerufen
und BerdachtSgründe angegeben, die ihm beweisend waren. Ich wollte
gleich hinunter zu ihr, Felir hielt mich zurück; das beweise ihm gar
Nichts, sagte er. Wir zankten uns darauf, und er ging fort. Felir
ist sonst jeden Tag zu mir gekommen, heute aber habe ich ihn ver¬
geblich erwartet und dabei immer nachgedacht, ob ich nicht der Alten
die Epistel lesen solle, unterließ es aber aus Furcht vor dein Haus-
sccmdal. Ich konnte vor Unruhe nicht einschlafen. Endlich vorhin
übermannte mich der Aerger, ich schlich mich leise auf den Hof, er¬
wartete die Zeit, wo die Alte ihrem Geliebten die Thüre öffnet und
gewöhnlich sehr stark betrunken ist, und wischte ihr, als sie wieder
nach ihrem Zimmer gehen wollte, ein Tüchtiges aus. Ich hatte ge¬
dacht, es würde sie in der dicken Finsterniß, die uns umgab, so über¬
raschen, daß sie gar nicht merken würde, wenn ich leise die Treppe
wieder hinaufliefe; sie aber fing gleich an zu schreien, hielt mich fest,
und daher die Scene, deren erster Zeuge Sie waren. Ich habe Ih¬
nen die Geschichte nun erzählt, ich weiß nicht, ob Sie mir Recht
geben; das ist mir im Grunde auch ziemlich gleich, nur stillschweigen
müssen Sie davon. Wenn nur mein Felir Nichts erfährt, der so
etwas nicht leiden kann. Morgen treibt ihn seine Sehnsucht gewiß
her; morgen früh hab' ich ihn wieder, das weiß ich. Gute Nacht!
Bei diesen Worten war sie schnell aufgestanden, hatte leise die Thüre
ausgedrückt und war verschwunden. Was hätte wohl ein moralischer
Kleinstädter, oder Jemand, der sich nur in den höheren steifen Krei¬
sen der Berliner Gesellschaft bewegt, und besonders das Wesen die¬
ser Art von Mädchen nicht kennt, zu dieser nächtlichen, ungezwunge-


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[0354] bist Du so traurig? Da fängt er gar an zu weinen und sagt: Mathilde, Du bist undankbar, Du weißt, was ich für Dich gethan habe, was Du warst und jetzt bist, Du vergiltst mir's schlecht. Au¬ ßerdem, daß zwei meiner Freunde Dich neulich in der Nacht auf einem öffentlichen Balle getroffen, hast Du nun gar einen elenden Schreiber neben mich gestellt. Zu dem ersten Vorwurf konnte ich Nichts sagen, eS war wahr; ich hatte es nicht für nöthig gefunden, Felir Alles zu erzählen, was, wie ich bemerkte, ihn nur stört und ärgert, wenn er es weiß; als ich aber mitten in seiner langen Pre¬ digt das Wort Schreiber horte, da erwachte das Gefühl meiner Unschuld, ich fuhr ärgerlich auf ihn los, er solle mir das beweisen. Die Alte hatte es ihm gesagt, hatte ihn leise zu sich herein gerufen und BerdachtSgründe angegeben, die ihm beweisend waren. Ich wollte gleich hinunter zu ihr, Felir hielt mich zurück; das beweise ihm gar Nichts, sagte er. Wir zankten uns darauf, und er ging fort. Felir ist sonst jeden Tag zu mir gekommen, heute aber habe ich ihn ver¬ geblich erwartet und dabei immer nachgedacht, ob ich nicht der Alten die Epistel lesen solle, unterließ es aber aus Furcht vor dein Haus- sccmdal. Ich konnte vor Unruhe nicht einschlafen. Endlich vorhin übermannte mich der Aerger, ich schlich mich leise auf den Hof, er¬ wartete die Zeit, wo die Alte ihrem Geliebten die Thüre öffnet und gewöhnlich sehr stark betrunken ist, und wischte ihr, als sie wieder nach ihrem Zimmer gehen wollte, ein Tüchtiges aus. Ich hatte ge¬ dacht, es würde sie in der dicken Finsterniß, die uns umgab, so über¬ raschen, daß sie gar nicht merken würde, wenn ich leise die Treppe wieder hinaufliefe; sie aber fing gleich an zu schreien, hielt mich fest, und daher die Scene, deren erster Zeuge Sie waren. Ich habe Ih¬ nen die Geschichte nun erzählt, ich weiß nicht, ob Sie mir Recht geben; das ist mir im Grunde auch ziemlich gleich, nur stillschweigen müssen Sie davon. Wenn nur mein Felir Nichts erfährt, der so etwas nicht leiden kann. Morgen treibt ihn seine Sehnsucht gewiß her; morgen früh hab' ich ihn wieder, das weiß ich. Gute Nacht! Bei diesen Worten war sie schnell aufgestanden, hatte leise die Thüre ausgedrückt und war verschwunden. Was hätte wohl ein moralischer Kleinstädter, oder Jemand, der sich nur in den höheren steifen Krei¬ sen der Berliner Gesellschaft bewegt, und besonders das Wesen die¬ ser Art von Mädchen nicht kennt, zu dieser nächtlichen, ungezwunge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/354>, abgerufen am 23.07.2024.