Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Eine Antwort möcht' ich mir erringen:
Ist des Geistes Licht nur für die Höhen,
Wo des Lebens Auserwählte stehen,
Wird es niemals in die Niedrung dringen?
Ist's des Himmels eherne Entschließung,
Daß die alten Bande nie zerreißen?
Ach, es hat des heil'gen Geist's Ergießung
Ob den Massen doch die Schrift verheißen!
Also ich -- und meine Thränen flössen,
Doch der ernste Mann zu meiner Rechten
Wuchs empor, von rothem Licht umgössen,
Wie ein Traumgesicht aus Mitternächten.
Lass' die Massen, rief er, sich vermehren,
Wie des Wassers wüste Ungeheuer
streitet Volk mit Volk in wilden Heeren,
Für die Tiefen taugt kein Sonnenfeuer.
Noth und Sünde, Krankheit, Haß und Wahn
Sind der Menschheit Loos für alle Zeiten;
Was an ihr der Schöpfer schlecht gethan,
Wird der Mensch doch nie zum Bessern leiten.
Wie sich diese Erde auch gestalte,
Nie vernarben wird der Menschheit Wunde;
Doch die Menschheit, die Jahrtausend alte,
Lebt und kämpft nur auf dem Erdenrunde,
Daß aus ihr, aus ihrem dunklen Grunde
Sich der Mensch, der Einzelne, entfalte.

Sprach's und schwand -- nach Haus zurückgekommen,
Fand ich alles Morgenroth entglommen;
Was ich sah in dunkler Nächte Trauern
Schrieb ich in des Morgens irren Schauern.



Grenzboten I8i4. II. 41
Eine Antwort möcht' ich mir erringen:
Ist des Geistes Licht nur für die Höhen,
Wo des Lebens Auserwählte stehen,
Wird es niemals in die Niedrung dringen?
Ist's des Himmels eherne Entschließung,
Daß die alten Bande nie zerreißen?
Ach, es hat des heil'gen Geist's Ergießung
Ob den Massen doch die Schrift verheißen!
Also ich — und meine Thränen flössen,
Doch der ernste Mann zu meiner Rechten
Wuchs empor, von rothem Licht umgössen,
Wie ein Traumgesicht aus Mitternächten.
Lass' die Massen, rief er, sich vermehren,
Wie des Wassers wüste Ungeheuer
streitet Volk mit Volk in wilden Heeren,
Für die Tiefen taugt kein Sonnenfeuer.
Noth und Sünde, Krankheit, Haß und Wahn
Sind der Menschheit Loos für alle Zeiten;
Was an ihr der Schöpfer schlecht gethan,
Wird der Mensch doch nie zum Bessern leiten.
Wie sich diese Erde auch gestalte,
Nie vernarben wird der Menschheit Wunde;
Doch die Menschheit, die Jahrtausend alte,
Lebt und kämpft nur auf dem Erdenrunde,
Daß aus ihr, aus ihrem dunklen Grunde
Sich der Mensch, der Einzelne, entfalte.

Sprach's und schwand — nach Haus zurückgekommen,
Fand ich alles Morgenroth entglommen;
Was ich sah in dunkler Nächte Trauern
Schrieb ich in des Morgens irren Schauern.



Grenzboten I8i4. II. 41
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0329" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/180888"/>
          <lg xml:id="POEMID_11" type="poem">
            <l> Eine Antwort möcht' ich mir erringen:<lb/>
Ist des Geistes Licht nur für die Höhen,<lb/>
Wo des Lebens Auserwählte stehen,<lb/>
Wird es niemals in die Niedrung dringen?<lb/>
Ist's des Himmels eherne Entschließung,<lb/>
Daß die alten Bande nie zerreißen?<lb/>
Ach, es hat des heil'gen Geist's Ergießung<lb/>
Ob den Massen doch die Schrift verheißen!</l>
            <l> Also ich &#x2014; und meine Thränen flössen,<lb/>
Doch der ernste Mann zu meiner Rechten<lb/>
Wuchs empor, von rothem Licht umgössen,<lb/>
Wie ein Traumgesicht aus Mitternächten.</l>
            <l> Lass' die Massen, rief er, sich vermehren,<lb/>
Wie des Wassers wüste Ungeheuer<lb/>
streitet Volk mit Volk in wilden Heeren,<lb/>
Für die Tiefen taugt kein Sonnenfeuer.<lb/>
Noth und Sünde, Krankheit, Haß und Wahn<lb/>
Sind der Menschheit Loos für alle Zeiten;<lb/>
Was an ihr der Schöpfer schlecht gethan,<lb/>
Wird der Mensch doch nie zum Bessern leiten.<lb/>
Wie sich diese Erde auch gestalte,<lb/>
Nie vernarben wird der Menschheit Wunde;<lb/>
Doch die Menschheit, die Jahrtausend alte,<lb/>
Lebt und kämpft nur auf dem Erdenrunde,<lb/>
Daß aus ihr, aus ihrem dunklen Grunde<lb/>
Sich der Mensch, der Einzelne, entfalte.</l>
          </lg>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <l> Sprach's und schwand &#x2014; nach Haus zurückgekommen,<lb/>
Fand ich alles Morgenroth entglommen;<lb/>
Was ich sah in dunkler Nächte Trauern<lb/>
Schrieb ich in des Morgens irren Schauern.</l><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I8i4. II. 41</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0329] Eine Antwort möcht' ich mir erringen: Ist des Geistes Licht nur für die Höhen, Wo des Lebens Auserwählte stehen, Wird es niemals in die Niedrung dringen? Ist's des Himmels eherne Entschließung, Daß die alten Bande nie zerreißen? Ach, es hat des heil'gen Geist's Ergießung Ob den Massen doch die Schrift verheißen! Also ich — und meine Thränen flössen, Doch der ernste Mann zu meiner Rechten Wuchs empor, von rothem Licht umgössen, Wie ein Traumgesicht aus Mitternächten. Lass' die Massen, rief er, sich vermehren, Wie des Wassers wüste Ungeheuer streitet Volk mit Volk in wilden Heeren, Für die Tiefen taugt kein Sonnenfeuer. Noth und Sünde, Krankheit, Haß und Wahn Sind der Menschheit Loos für alle Zeiten; Was an ihr der Schöpfer schlecht gethan, Wird der Mensch doch nie zum Bessern leiten. Wie sich diese Erde auch gestalte, Nie vernarben wird der Menschheit Wunde; Doch die Menschheit, die Jahrtausend alte, Lebt und kämpft nur auf dem Erdenrunde, Daß aus ihr, aus ihrem dunklen Grunde Sich der Mensch, der Einzelne, entfalte. Sprach's und schwand — nach Haus zurückgekommen, Fand ich alles Morgenroth entglommen; Was ich sah in dunkler Nächte Trauern Schrieb ich in des Morgens irren Schauern. Grenzboten I8i4. II. 41

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/329
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/329>, abgerufen am 23.12.2024.