Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

hungerigen Mägen der armen verbrechenvollen Gegenwart zu sagen
haben? Freilich muß jene um ein Jahrzehend, ein und das andere
Jahrhundert zurück; freilich muß sie die Poesie, die noch ein schla¬
gend Herz im Leibe hat, an die Vergangenheit verrathen; freilich
muß sie erst Shakspeare verstehen lernen, damit sie den Puls der
Zeit begreifen lerne. Ist's der Tod, der in diesen glühenden Adern
hämmert und einen Nagel um den andern in den Sarg der noch
allzuweit in diese Zeit hereinragenden Vergangenheit schlägt, so soll
und muß die Philosophie, wenn sie zur Krankenwarte wenigstens
Gefühl und Muth hat, nach der bösen Wurzel des Todes graben,
die mit tausend Aesten und Fäden in das Herz der Menschheit sich
eingeteufelt hat; ist erst das Unkraut fort, so wird der Baum des
Lebens schon von selber wachsen, daß auch die Philosophie an seinen
goldenen Aepfeln sich wieder gesund schauen und lebendig essen kann.

Also nur fort mit dem dummen Hofmeistern von Poesie und
Leben durch eine blöde, überreife Weisheit, die kein Recht, also al¬
lerdings auch keine Pflicht an das Leben hat; eine Philosophie, die
den Tod nicht versteht, vermag nicht zu leben und Leben nicht zu
begreifen, geschweige denn zu geben. --


Heinrich Merz.


hungerigen Mägen der armen verbrechenvollen Gegenwart zu sagen
haben? Freilich muß jene um ein Jahrzehend, ein und das andere
Jahrhundert zurück; freilich muß sie die Poesie, die noch ein schla¬
gend Herz im Leibe hat, an die Vergangenheit verrathen; freilich
muß sie erst Shakspeare verstehen lernen, damit sie den Puls der
Zeit begreifen lerne. Ist's der Tod, der in diesen glühenden Adern
hämmert und einen Nagel um den andern in den Sarg der noch
allzuweit in diese Zeit hereinragenden Vergangenheit schlägt, so soll
und muß die Philosophie, wenn sie zur Krankenwarte wenigstens
Gefühl und Muth hat, nach der bösen Wurzel des Todes graben,
die mit tausend Aesten und Fäden in das Herz der Menschheit sich
eingeteufelt hat; ist erst das Unkraut fort, so wird der Baum des
Lebens schon von selber wachsen, daß auch die Philosophie an seinen
goldenen Aepfeln sich wieder gesund schauen und lebendig essen kann.

Also nur fort mit dem dummen Hofmeistern von Poesie und
Leben durch eine blöde, überreife Weisheit, die kein Recht, also al¬
lerdings auch keine Pflicht an das Leben hat; eine Philosophie, die
den Tod nicht versteht, vermag nicht zu leben und Leben nicht zu
begreifen, geschweige denn zu geben. —


Heinrich Merz.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0302" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/180861"/>
          <p xml:id="ID_723" prev="#ID_722"> hungerigen Mägen der armen verbrechenvollen Gegenwart zu sagen<lb/>
haben? Freilich muß jene um ein Jahrzehend, ein und das andere<lb/>
Jahrhundert zurück; freilich muß sie die Poesie, die noch ein schla¬<lb/>
gend Herz im Leibe hat, an die Vergangenheit verrathen; freilich<lb/>
muß sie erst Shakspeare verstehen lernen, damit sie den Puls der<lb/>
Zeit begreifen lerne. Ist's der Tod, der in diesen glühenden Adern<lb/>
hämmert und einen Nagel um den andern in den Sarg der noch<lb/>
allzuweit in diese Zeit hereinragenden Vergangenheit schlägt, so soll<lb/>
und muß die Philosophie, wenn sie zur Krankenwarte wenigstens<lb/>
Gefühl und Muth hat, nach der bösen Wurzel des Todes graben,<lb/>
die mit tausend Aesten und Fäden in das Herz der Menschheit sich<lb/>
eingeteufelt hat; ist erst das Unkraut fort, so wird der Baum des<lb/>
Lebens schon von selber wachsen, daß auch die Philosophie an seinen<lb/>
goldenen Aepfeln sich wieder gesund schauen und lebendig essen kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_724"> Also nur fort mit dem dummen Hofmeistern von Poesie und<lb/>
Leben durch eine blöde, überreife Weisheit, die kein Recht, also al¬<lb/>
lerdings auch keine Pflicht an das Leben hat; eine Philosophie, die<lb/>
den Tod nicht versteht, vermag nicht zu leben und Leben nicht zu<lb/>
begreifen, geschweige denn zu geben. &#x2014;</p><lb/>
          <note type="byline"> Heinrich Merz.</note><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0302] hungerigen Mägen der armen verbrechenvollen Gegenwart zu sagen haben? Freilich muß jene um ein Jahrzehend, ein und das andere Jahrhundert zurück; freilich muß sie die Poesie, die noch ein schla¬ gend Herz im Leibe hat, an die Vergangenheit verrathen; freilich muß sie erst Shakspeare verstehen lernen, damit sie den Puls der Zeit begreifen lerne. Ist's der Tod, der in diesen glühenden Adern hämmert und einen Nagel um den andern in den Sarg der noch allzuweit in diese Zeit hereinragenden Vergangenheit schlägt, so soll und muß die Philosophie, wenn sie zur Krankenwarte wenigstens Gefühl und Muth hat, nach der bösen Wurzel des Todes graben, die mit tausend Aesten und Fäden in das Herz der Menschheit sich eingeteufelt hat; ist erst das Unkraut fort, so wird der Baum des Lebens schon von selber wachsen, daß auch die Philosophie an seinen goldenen Aepfeln sich wieder gesund schauen und lebendig essen kann. Also nur fort mit dem dummen Hofmeistern von Poesie und Leben durch eine blöde, überreife Weisheit, die kein Recht, also al¬ lerdings auch keine Pflicht an das Leben hat; eine Philosophie, die den Tod nicht versteht, vermag nicht zu leben und Leben nicht zu begreifen, geschweige denn zu geben. — Heinrich Merz.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/302
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/302>, abgerufen am 23.12.2024.