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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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sehen Hofmeister -- mitunter auch unserer nobeln Verleumder und
falschen Ankläger sagen?

Die Schwäche ist die Mutter der Sünde, und der Sohn und
Sold der Sünde ist der Tod.

Armer Moritz Napp, der Du Dich ärger behandeln lassen mußt,
als ein Schulbube, weil Du darauf bestehst, daß Ophelia, daß Cor-
delia, daß Desdemona nur dadurch Heilige geworden sind, weil
sie Sünderinnen, kleine, schöne, liebenswürdige, aber doch Sünderin¬
nen gewesen sind. Aber Friedrich Bischer hat den Hegel studirt
und Moritz Napp die Menschheit; jener hat in geistreichen Abhand¬
lungen auseinandergesetzt, was komisch ist (Kühne läßt das für gute
Schulübung gelten, heißt es aber selbst deutsche Komik), dieser hat
die Physiologie der Sprache, dieser unmittelbarsten Offenbarung des
Menschenherzens ergründet: jener hat über Shcckspeare im Verhält¬
niß zur deutschen Poesie geschrieben, dieser hat Shcckspeare übersetzt;
jener hat jüngst an der Gliederpuppe der Hegel'schen Aesthetik einige
Dräthchen zu biegen, einige Höcker ein- und etliche Beine auszuren¬
ken versucht, -- so etwas gehört gewiß in die Jahrbücher der Ge¬
genwart -- dieser hat Atellanen gedichtet -- ja, Friedrich Bischer
ist ein sehr großer Philosoph, und Moritz Rapp ist kein großer Dich¬
ter, aber Dichter doch, und Shakspeare ist auch ein Dichter und
gottlob kein 'Philosoph, d. h. keiner von der sehr großen Sorte.

Letzteres konnte er nicht sein, weil er ersteres war. Dichter sind
Söhne Gottes und sitzen in dessen geheimsten Weltenrath, liegen,
während die anderen Jünger und Philosophen das todte Osterlamm
seciren und verschnaufen, an des ewigen Meisters weltbelebender
Brust. Was hören sie darin klopfen? Den Puls des Lebens für
die Gottgebornen; den Hammer des Todes für die Weltgebornen,
Weltweisen und Nichtweltweisen. Und aus der Welt geboren war
doch Desdemona's "kleine Lüge", aus der Welt geboren war doch
Cordelia's -- wenn auch nur momentane -- Herzenshärtigkeit, aus
der Welt war doch geboren Ophelia's "überreife Schönheit"?

Shakspeare war gewiß kein Moralist, soll ich es seinem Ver¬
hunzer gegenüber sein? Aber wahr bleibt's, an diesem königlichen, ja
göttlichen Dichter kann unsere philosophentodte Zeit, unsere sitten-,
gesetz-, gewissen- und gottlose Zeit so gut als aus der Bibel lernen,
was Sünde und was Sittlichkeit ist. Sünde ist Alles, was sich be-


sehen Hofmeister — mitunter auch unserer nobeln Verleumder und
falschen Ankläger sagen?

Die Schwäche ist die Mutter der Sünde, und der Sohn und
Sold der Sünde ist der Tod.

Armer Moritz Napp, der Du Dich ärger behandeln lassen mußt,
als ein Schulbube, weil Du darauf bestehst, daß Ophelia, daß Cor-
delia, daß Desdemona nur dadurch Heilige geworden sind, weil
sie Sünderinnen, kleine, schöne, liebenswürdige, aber doch Sünderin¬
nen gewesen sind. Aber Friedrich Bischer hat den Hegel studirt
und Moritz Napp die Menschheit; jener hat in geistreichen Abhand¬
lungen auseinandergesetzt, was komisch ist (Kühne läßt das für gute
Schulübung gelten, heißt es aber selbst deutsche Komik), dieser hat
die Physiologie der Sprache, dieser unmittelbarsten Offenbarung des
Menschenherzens ergründet: jener hat über Shcckspeare im Verhält¬
niß zur deutschen Poesie geschrieben, dieser hat Shcckspeare übersetzt;
jener hat jüngst an der Gliederpuppe der Hegel'schen Aesthetik einige
Dräthchen zu biegen, einige Höcker ein- und etliche Beine auszuren¬
ken versucht, — so etwas gehört gewiß in die Jahrbücher der Ge¬
genwart — dieser hat Atellanen gedichtet — ja, Friedrich Bischer
ist ein sehr großer Philosoph, und Moritz Rapp ist kein großer Dich¬
ter, aber Dichter doch, und Shakspeare ist auch ein Dichter und
gottlob kein 'Philosoph, d. h. keiner von der sehr großen Sorte.

Letzteres konnte er nicht sein, weil er ersteres war. Dichter sind
Söhne Gottes und sitzen in dessen geheimsten Weltenrath, liegen,
während die anderen Jünger und Philosophen das todte Osterlamm
seciren und verschnaufen, an des ewigen Meisters weltbelebender
Brust. Was hören sie darin klopfen? Den Puls des Lebens für
die Gottgebornen; den Hammer des Todes für die Weltgebornen,
Weltweisen und Nichtweltweisen. Und aus der Welt geboren war
doch Desdemona's „kleine Lüge", aus der Welt geboren war doch
Cordelia's — wenn auch nur momentane — Herzenshärtigkeit, aus
der Welt war doch geboren Ophelia's „überreife Schönheit"?

Shakspeare war gewiß kein Moralist, soll ich es seinem Ver¬
hunzer gegenüber sein? Aber wahr bleibt's, an diesem königlichen, ja
göttlichen Dichter kann unsere philosophentodte Zeit, unsere sitten-,
gesetz-, gewissen- und gottlose Zeit so gut als aus der Bibel lernen,
was Sünde und was Sittlichkeit ist. Sünde ist Alles, was sich be-


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[0300] sehen Hofmeister — mitunter auch unserer nobeln Verleumder und falschen Ankläger sagen? Die Schwäche ist die Mutter der Sünde, und der Sohn und Sold der Sünde ist der Tod. Armer Moritz Napp, der Du Dich ärger behandeln lassen mußt, als ein Schulbube, weil Du darauf bestehst, daß Ophelia, daß Cor- delia, daß Desdemona nur dadurch Heilige geworden sind, weil sie Sünderinnen, kleine, schöne, liebenswürdige, aber doch Sünderin¬ nen gewesen sind. Aber Friedrich Bischer hat den Hegel studirt und Moritz Napp die Menschheit; jener hat in geistreichen Abhand¬ lungen auseinandergesetzt, was komisch ist (Kühne läßt das für gute Schulübung gelten, heißt es aber selbst deutsche Komik), dieser hat die Physiologie der Sprache, dieser unmittelbarsten Offenbarung des Menschenherzens ergründet: jener hat über Shcckspeare im Verhält¬ niß zur deutschen Poesie geschrieben, dieser hat Shcckspeare übersetzt; jener hat jüngst an der Gliederpuppe der Hegel'schen Aesthetik einige Dräthchen zu biegen, einige Höcker ein- und etliche Beine auszuren¬ ken versucht, — so etwas gehört gewiß in die Jahrbücher der Ge¬ genwart — dieser hat Atellanen gedichtet — ja, Friedrich Bischer ist ein sehr großer Philosoph, und Moritz Rapp ist kein großer Dich¬ ter, aber Dichter doch, und Shakspeare ist auch ein Dichter und gottlob kein 'Philosoph, d. h. keiner von der sehr großen Sorte. Letzteres konnte er nicht sein, weil er ersteres war. Dichter sind Söhne Gottes und sitzen in dessen geheimsten Weltenrath, liegen, während die anderen Jünger und Philosophen das todte Osterlamm seciren und verschnaufen, an des ewigen Meisters weltbelebender Brust. Was hören sie darin klopfen? Den Puls des Lebens für die Gottgebornen; den Hammer des Todes für die Weltgebornen, Weltweisen und Nichtweltweisen. Und aus der Welt geboren war doch Desdemona's „kleine Lüge", aus der Welt geboren war doch Cordelia's — wenn auch nur momentane — Herzenshärtigkeit, aus der Welt war doch geboren Ophelia's „überreife Schönheit"? Shakspeare war gewiß kein Moralist, soll ich es seinem Ver¬ hunzer gegenüber sein? Aber wahr bleibt's, an diesem königlichen, ja göttlichen Dichter kann unsere philosophentodte Zeit, unsere sitten-, gesetz-, gewissen- und gottlose Zeit so gut als aus der Bibel lernen, was Sünde und was Sittlichkeit ist. Sünde ist Alles, was sich be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/300>, abgerufen am 23.07.2024.