Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Heute verfahre" unsere Schriftsteller anders; um uns zu gefal¬
le", kehren sie die rauhe Seite ihres Gewebes heraus. Aber.mit
eben soviel Geist, eben soviel Phantasie, mehr Wissenschaft, mehr
Beobachtungsgabe, mehr Logik, mehr wahrer Leidenschaft, und mit ei¬
ner vollkommeneren Form hat Balzac, der doch im Styl Eugen Sue
weit überlegen ist, bei einem ganz entgegengesetzten Ideengehalt den¬
selben Schwulst des Styls, denselben Mißbrauch der Beschreibung
und der Analyse gezeigt, der uns bei Fräulein von Scudery auf¬
fällt. Beide weisen Blätter auf, die in Affectation und schlechtem
Geschmack miteinander wetteifern können; und bemerkenswerth ist es
gewiß, daß unter den beiden Manieren die am meisten geschraubte
und schwülstige nicht die des Fräulein v. Scudery ist.

Bleiben wir bei Balzac und Scudery, und verfolgen wir diese
Nergleichung zwischen dem Roman des 17. und des 19. Jahrhun¬
derts in der Person seiner zwei vorzüglichsten Repräsentanten. Ge¬
hen wir dabei bis auf den Grund ihrer Werke, vergleichen wir die
Verhältnisse und die Physiognomie ihrer Personen, daS Spiel ihrer
Leidenschaften, so finden wir, daß jeder Vergleich aufhört, oder viel¬
mehr, daß er sich vollkommen umkehrt. Fräulein v. Scudery lebte in
einer müßigen und frivolen, aber in Klassen und Rangordnungen
abgetheilten Gesellschaft; die Angelegenheiten deS Herzens, wie die
des Lebens wurden durch eine Etiquette geregelt, von der man nicht
abzuweichen wagte. Balzac gehört einer Zeit an, die wohl politi¬
sche, aber keine sittliche oder sociale Gesetze aufzuweisen hat. Das
Leben ist ziemlich regelmäßig in seiner Armseligkeit, weil es ein we¬
sentliches Triebrad, das Geld, und eine hitzige bewegende Kraft, das
Interesse besitzt; aber in der geistigen Welt herrscht ein schreckenerre¬
gendes Chaos. Und vorzüglich von dieser Seite gleicht Balzac sei¬
nem Jahrhundert. Was uns in der Literatur charakterisirt, das ist
die Scheu vor dein Bekannten; so kalt und gewöhnlich unser Leben
ist, so begehrlich und fieberhaft fantastisch sind unsre Gedanken; aber
wie lange schon ist das menschliche Herz, diese Gvtvgrube, von un¬
sern Dichtern in allen Richtungen durchspürt worden. Um eine
neue Ader zu entdecken, wie viel Geduld, wie viel Fleiß ist da nö¬
thig! Und doch müssen wir Neues, Ungewohntes haben; wir müs¬
sen es schnell in großer Menge haben, selbst wenn es nicht mehr in
der Welt vorhanden wäre. So gedrängt verschmelzen wir bekannte


Heute verfahre» unsere Schriftsteller anders; um uns zu gefal¬
le», kehren sie die rauhe Seite ihres Gewebes heraus. Aber.mit
eben soviel Geist, eben soviel Phantasie, mehr Wissenschaft, mehr
Beobachtungsgabe, mehr Logik, mehr wahrer Leidenschaft, und mit ei¬
ner vollkommeneren Form hat Balzac, der doch im Styl Eugen Sue
weit überlegen ist, bei einem ganz entgegengesetzten Ideengehalt den¬
selben Schwulst des Styls, denselben Mißbrauch der Beschreibung
und der Analyse gezeigt, der uns bei Fräulein von Scudery auf¬
fällt. Beide weisen Blätter auf, die in Affectation und schlechtem
Geschmack miteinander wetteifern können; und bemerkenswerth ist es
gewiß, daß unter den beiden Manieren die am meisten geschraubte
und schwülstige nicht die des Fräulein v. Scudery ist.

Bleiben wir bei Balzac und Scudery, und verfolgen wir diese
Nergleichung zwischen dem Roman des 17. und des 19. Jahrhun¬
derts in der Person seiner zwei vorzüglichsten Repräsentanten. Ge¬
hen wir dabei bis auf den Grund ihrer Werke, vergleichen wir die
Verhältnisse und die Physiognomie ihrer Personen, daS Spiel ihrer
Leidenschaften, so finden wir, daß jeder Vergleich aufhört, oder viel¬
mehr, daß er sich vollkommen umkehrt. Fräulein v. Scudery lebte in
einer müßigen und frivolen, aber in Klassen und Rangordnungen
abgetheilten Gesellschaft; die Angelegenheiten deS Herzens, wie die
des Lebens wurden durch eine Etiquette geregelt, von der man nicht
abzuweichen wagte. Balzac gehört einer Zeit an, die wohl politi¬
sche, aber keine sittliche oder sociale Gesetze aufzuweisen hat. Das
Leben ist ziemlich regelmäßig in seiner Armseligkeit, weil es ein we¬
sentliches Triebrad, das Geld, und eine hitzige bewegende Kraft, das
Interesse besitzt; aber in der geistigen Welt herrscht ein schreckenerre¬
gendes Chaos. Und vorzüglich von dieser Seite gleicht Balzac sei¬
nem Jahrhundert. Was uns in der Literatur charakterisirt, das ist
die Scheu vor dein Bekannten; so kalt und gewöhnlich unser Leben
ist, so begehrlich und fieberhaft fantastisch sind unsre Gedanken; aber
wie lange schon ist das menschliche Herz, diese Gvtvgrube, von un¬
sern Dichtern in allen Richtungen durchspürt worden. Um eine
neue Ader zu entdecken, wie viel Geduld, wie viel Fleiß ist da nö¬
thig! Und doch müssen wir Neues, Ungewohntes haben; wir müs¬
sen es schnell in großer Menge haben, selbst wenn es nicht mehr in
der Welt vorhanden wäre. So gedrängt verschmelzen wir bekannte


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0030" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/180589"/>
            <p xml:id="ID_45"> Heute verfahre» unsere Schriftsteller anders; um uns zu gefal¬<lb/>
le», kehren sie die rauhe Seite ihres Gewebes heraus. Aber.mit<lb/>
eben soviel Geist, eben soviel Phantasie, mehr Wissenschaft, mehr<lb/>
Beobachtungsgabe, mehr Logik, mehr wahrer Leidenschaft, und mit ei¬<lb/>
ner vollkommeneren Form hat Balzac, der doch im Styl Eugen Sue<lb/>
weit überlegen ist, bei einem ganz entgegengesetzten Ideengehalt den¬<lb/>
selben Schwulst des Styls, denselben Mißbrauch der Beschreibung<lb/>
und der Analyse gezeigt, der uns bei Fräulein von Scudery auf¬<lb/>
fällt. Beide weisen Blätter auf, die in Affectation und schlechtem<lb/>
Geschmack miteinander wetteifern können; und bemerkenswerth ist es<lb/>
gewiß, daß unter den beiden Manieren die am meisten geschraubte<lb/>
und schwülstige nicht die des Fräulein v. Scudery ist.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_46" next="#ID_47"> Bleiben wir bei Balzac und Scudery, und verfolgen wir diese<lb/>
Nergleichung zwischen dem Roman des 17. und des 19. Jahrhun¬<lb/>
derts in der Person seiner zwei vorzüglichsten Repräsentanten. Ge¬<lb/>
hen wir dabei bis auf den Grund ihrer Werke, vergleichen wir die<lb/>
Verhältnisse und die Physiognomie ihrer Personen, daS Spiel ihrer<lb/>
Leidenschaften, so finden wir, daß jeder Vergleich aufhört, oder viel¬<lb/>
mehr, daß er sich vollkommen umkehrt. Fräulein v. Scudery lebte in<lb/>
einer müßigen und frivolen, aber in Klassen und Rangordnungen<lb/>
abgetheilten Gesellschaft; die Angelegenheiten deS Herzens, wie die<lb/>
des Lebens wurden durch eine Etiquette geregelt, von der man nicht<lb/>
abzuweichen wagte. Balzac gehört einer Zeit an, die wohl politi¬<lb/>
sche, aber keine sittliche oder sociale Gesetze aufzuweisen hat. Das<lb/>
Leben ist ziemlich regelmäßig in seiner Armseligkeit, weil es ein we¬<lb/>
sentliches Triebrad, das Geld, und eine hitzige bewegende Kraft, das<lb/>
Interesse besitzt; aber in der geistigen Welt herrscht ein schreckenerre¬<lb/>
gendes Chaos. Und vorzüglich von dieser Seite gleicht Balzac sei¬<lb/>
nem Jahrhundert. Was uns in der Literatur charakterisirt, das ist<lb/>
die Scheu vor dein Bekannten; so kalt und gewöhnlich unser Leben<lb/>
ist, so begehrlich und fieberhaft fantastisch sind unsre Gedanken; aber<lb/>
wie lange schon ist das menschliche Herz, diese Gvtvgrube, von un¬<lb/>
sern Dichtern in allen Richtungen durchspürt worden. Um eine<lb/>
neue Ader zu entdecken, wie viel Geduld, wie viel Fleiß ist da nö¬<lb/>
thig! Und doch müssen wir Neues, Ungewohntes haben; wir müs¬<lb/>
sen es schnell in großer Menge haben, selbst wenn es nicht mehr in<lb/>
der Welt vorhanden wäre.  So gedrängt verschmelzen wir bekannte</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0030] Heute verfahre» unsere Schriftsteller anders; um uns zu gefal¬ le», kehren sie die rauhe Seite ihres Gewebes heraus. Aber.mit eben soviel Geist, eben soviel Phantasie, mehr Wissenschaft, mehr Beobachtungsgabe, mehr Logik, mehr wahrer Leidenschaft, und mit ei¬ ner vollkommeneren Form hat Balzac, der doch im Styl Eugen Sue weit überlegen ist, bei einem ganz entgegengesetzten Ideengehalt den¬ selben Schwulst des Styls, denselben Mißbrauch der Beschreibung und der Analyse gezeigt, der uns bei Fräulein von Scudery auf¬ fällt. Beide weisen Blätter auf, die in Affectation und schlechtem Geschmack miteinander wetteifern können; und bemerkenswerth ist es gewiß, daß unter den beiden Manieren die am meisten geschraubte und schwülstige nicht die des Fräulein v. Scudery ist. Bleiben wir bei Balzac und Scudery, und verfolgen wir diese Nergleichung zwischen dem Roman des 17. und des 19. Jahrhun¬ derts in der Person seiner zwei vorzüglichsten Repräsentanten. Ge¬ hen wir dabei bis auf den Grund ihrer Werke, vergleichen wir die Verhältnisse und die Physiognomie ihrer Personen, daS Spiel ihrer Leidenschaften, so finden wir, daß jeder Vergleich aufhört, oder viel¬ mehr, daß er sich vollkommen umkehrt. Fräulein v. Scudery lebte in einer müßigen und frivolen, aber in Klassen und Rangordnungen abgetheilten Gesellschaft; die Angelegenheiten deS Herzens, wie die des Lebens wurden durch eine Etiquette geregelt, von der man nicht abzuweichen wagte. Balzac gehört einer Zeit an, die wohl politi¬ sche, aber keine sittliche oder sociale Gesetze aufzuweisen hat. Das Leben ist ziemlich regelmäßig in seiner Armseligkeit, weil es ein we¬ sentliches Triebrad, das Geld, und eine hitzige bewegende Kraft, das Interesse besitzt; aber in der geistigen Welt herrscht ein schreckenerre¬ gendes Chaos. Und vorzüglich von dieser Seite gleicht Balzac sei¬ nem Jahrhundert. Was uns in der Literatur charakterisirt, das ist die Scheu vor dein Bekannten; so kalt und gewöhnlich unser Leben ist, so begehrlich und fieberhaft fantastisch sind unsre Gedanken; aber wie lange schon ist das menschliche Herz, diese Gvtvgrube, von un¬ sern Dichtern in allen Richtungen durchspürt worden. Um eine neue Ader zu entdecken, wie viel Geduld, wie viel Fleiß ist da nö¬ thig! Und doch müssen wir Neues, Ungewohntes haben; wir müs¬ sen es schnell in großer Menge haben, selbst wenn es nicht mehr in der Welt vorhanden wäre. So gedrängt verschmelzen wir bekannte

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/30
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/30>, abgerufen am 23.12.2024.