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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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lungo sicher nicht zri sehen braucht, behaupte der Narr in Shakspea-
re's Lear. Daß aber die Zukunft heiliges Land ist, und ihr Boden
nicht mit dem gemeinen Schuh der Lüste und des Leichtsinns betreten
werden darf -- wer soll'S geschwind sagen? Ophelia, das nordische
Veilchen, oder Cordelia, der Engel, oder Desdemona, die Heilige?

Ja wohl, es gehört ein sehr zartes Gewissen, ein sehr waches
Herz, ein sehr gezüchtigter Sinn, ein sehr -- über den eigenen Be¬
stand und Werth, Nothstand und Schaden -- aufgeklärtes Auge
dazu, um das Höllcnfeuerzeichcn der Armuth und des Verbrechens
zu sehen. Champagnertrunken und trüffelsatt mag Einer in Herr¬
lichkeit und Freuden mit Lazarus selbst Bruderschaft machen und
Arm in Arm mit dem Frack vom Trödelmarkt spazieren gehen, unter
dem kein Hemde ist. Mit einem weltweiten Gewissen mag Einer
sündfluthssicher dem Weltgeist schon verzeihen, daß er sich die Galee¬
ren zu Brücken in seine Zukunft baut und über das Aubum'sche oder
pennsylvanische System den Kopf zerbricht.

Desdemona als Heilige anbeten und Cordelia als Engel ver¬
ehren und dem französischen Helden des Schaffotts Bravo klatschen
-- zwischen Beiden liegt nur ein Schritt, ein langer, ein sehr langer,
aber doch Ein Schritt. Und man kann an einem Tage auch ohne
Siebenmeilenstiefeln sehr weit kommen.

Nun, "ein schlechtweg fleckenloser Charakter ist aber freilich eine
leere Abstraction; die ungeschickte Geschäftigkeit, womit Desdemona
ihrem Gemahl immer zur Unzeit in Cassio's Angelegenheit beschwer¬
lich wird (ein Eifer, dessen Offenheit gerade ein Beweis von ihrem
guten Gewissen ist), die kleine Lüge über den Verlust des Tuches --
dies sind Züge weiblicher Schwäche, welche einer leeren Idealität
hinreichend entgegenwirken."

Wie, wäre Desdemona ein an sich unmöglicher Charakter, wenn
diese allerdings "hinreichend entgegenwirkenden" Kleinigkeiten vollends
fort wären? Ja, ein unmöglicher Charakter in dieser Welt des Ar¬
gen und der Sünde. Außer Einem gab eS keinen Menschen, den
man keiner Sünde hätte zeihen mögen. Und ist die Lüge noch so
klein, so ist sie Sünde. Und ist die "Offenheit" noch so schön, so ist
sie Leichtsinn, so ist sie Sünde, wenn sie zur Lüge führt oder sich ge¬
sellt. Ich schreibe hier keine Moral. Aber was soll man zu dieser
"kleinen Moral" unserer philosophischen Stimmführer, unserer ästheti-


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lungo sicher nicht zri sehen braucht, behaupte der Narr in Shakspea-
re's Lear. Daß aber die Zukunft heiliges Land ist, und ihr Boden
nicht mit dem gemeinen Schuh der Lüste und des Leichtsinns betreten
werden darf — wer soll'S geschwind sagen? Ophelia, das nordische
Veilchen, oder Cordelia, der Engel, oder Desdemona, die Heilige?

Ja wohl, es gehört ein sehr zartes Gewissen, ein sehr waches
Herz, ein sehr gezüchtigter Sinn, ein sehr — über den eigenen Be¬
stand und Werth, Nothstand und Schaden — aufgeklärtes Auge
dazu, um das Höllcnfeuerzeichcn der Armuth und des Verbrechens
zu sehen. Champagnertrunken und trüffelsatt mag Einer in Herr¬
lichkeit und Freuden mit Lazarus selbst Bruderschaft machen und
Arm in Arm mit dem Frack vom Trödelmarkt spazieren gehen, unter
dem kein Hemde ist. Mit einem weltweiten Gewissen mag Einer
sündfluthssicher dem Weltgeist schon verzeihen, daß er sich die Galee¬
ren zu Brücken in seine Zukunft baut und über das Aubum'sche oder
pennsylvanische System den Kopf zerbricht.

Desdemona als Heilige anbeten und Cordelia als Engel ver¬
ehren und dem französischen Helden des Schaffotts Bravo klatschen
— zwischen Beiden liegt nur ein Schritt, ein langer, ein sehr langer,
aber doch Ein Schritt. Und man kann an einem Tage auch ohne
Siebenmeilenstiefeln sehr weit kommen.

Nun, „ein schlechtweg fleckenloser Charakter ist aber freilich eine
leere Abstraction; die ungeschickte Geschäftigkeit, womit Desdemona
ihrem Gemahl immer zur Unzeit in Cassio's Angelegenheit beschwer¬
lich wird (ein Eifer, dessen Offenheit gerade ein Beweis von ihrem
guten Gewissen ist), die kleine Lüge über den Verlust des Tuches —
dies sind Züge weiblicher Schwäche, welche einer leeren Idealität
hinreichend entgegenwirken."

Wie, wäre Desdemona ein an sich unmöglicher Charakter, wenn
diese allerdings „hinreichend entgegenwirkenden" Kleinigkeiten vollends
fort wären? Ja, ein unmöglicher Charakter in dieser Welt des Ar¬
gen und der Sünde. Außer Einem gab eS keinen Menschen, den
man keiner Sünde hätte zeihen mögen. Und ist die Lüge noch so
klein, so ist sie Sünde. Und ist die „Offenheit" noch so schön, so ist
sie Leichtsinn, so ist sie Sünde, wenn sie zur Lüge führt oder sich ge¬
sellt. Ich schreibe hier keine Moral. Aber was soll man zu dieser
„kleinen Moral" unserer philosophischen Stimmführer, unserer ästheti-


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[0299] lungo sicher nicht zri sehen braucht, behaupte der Narr in Shakspea- re's Lear. Daß aber die Zukunft heiliges Land ist, und ihr Boden nicht mit dem gemeinen Schuh der Lüste und des Leichtsinns betreten werden darf — wer soll'S geschwind sagen? Ophelia, das nordische Veilchen, oder Cordelia, der Engel, oder Desdemona, die Heilige? Ja wohl, es gehört ein sehr zartes Gewissen, ein sehr waches Herz, ein sehr gezüchtigter Sinn, ein sehr — über den eigenen Be¬ stand und Werth, Nothstand und Schaden — aufgeklärtes Auge dazu, um das Höllcnfeuerzeichcn der Armuth und des Verbrechens zu sehen. Champagnertrunken und trüffelsatt mag Einer in Herr¬ lichkeit und Freuden mit Lazarus selbst Bruderschaft machen und Arm in Arm mit dem Frack vom Trödelmarkt spazieren gehen, unter dem kein Hemde ist. Mit einem weltweiten Gewissen mag Einer sündfluthssicher dem Weltgeist schon verzeihen, daß er sich die Galee¬ ren zu Brücken in seine Zukunft baut und über das Aubum'sche oder pennsylvanische System den Kopf zerbricht. Desdemona als Heilige anbeten und Cordelia als Engel ver¬ ehren und dem französischen Helden des Schaffotts Bravo klatschen — zwischen Beiden liegt nur ein Schritt, ein langer, ein sehr langer, aber doch Ein Schritt. Und man kann an einem Tage auch ohne Siebenmeilenstiefeln sehr weit kommen. Nun, „ein schlechtweg fleckenloser Charakter ist aber freilich eine leere Abstraction; die ungeschickte Geschäftigkeit, womit Desdemona ihrem Gemahl immer zur Unzeit in Cassio's Angelegenheit beschwer¬ lich wird (ein Eifer, dessen Offenheit gerade ein Beweis von ihrem guten Gewissen ist), die kleine Lüge über den Verlust des Tuches — dies sind Züge weiblicher Schwäche, welche einer leeren Idealität hinreichend entgegenwirken." Wie, wäre Desdemona ein an sich unmöglicher Charakter, wenn diese allerdings „hinreichend entgegenwirkenden" Kleinigkeiten vollends fort wären? Ja, ein unmöglicher Charakter in dieser Welt des Ar¬ gen und der Sünde. Außer Einem gab eS keinen Menschen, den man keiner Sünde hätte zeihen mögen. Und ist die Lüge noch so klein, so ist sie Sünde. Und ist die „Offenheit" noch so schön, so ist sie Leichtsinn, so ist sie Sünde, wenn sie zur Lüge führt oder sich ge¬ sellt. Ich schreibe hier keine Moral. Aber was soll man zu dieser „kleinen Moral" unserer philosophischen Stimmführer, unserer ästheti- Z7-i-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/299>, abgerufen am 23.12.2024.