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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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ren. An der Vergangenheit können wir nur sterben und im besten
Fall sterben lernen. Der Dienst ist groß. den sie uns damit thut.
Wir schleppen so viel Todtes mit herein in die Gegenwart, welche
dadurch nur zu einem Schein, vielmehr zur plötzlichen Vergangenheit,
d. h. zum Tod für uns wird. Diesem müssen wir absterben, von
der Geschichte belehrt und gemahnt, daß es ein Gewesenes und Ver¬
wesendes ist, also nur durch Einen, der das Leben "von und in ihm
selber" hat, zu einem Seienden und Werdenden erweckt und beseelt,
begeistigt und verleiblicht werden kann.

Wer die Philosophie blos als Buchhalterin der Vergangenheit
hat, der hat den Tod in ihm selber; den Tod, dem er nicht abster¬
ben kann, den er nicht wegschütteln kann; der ihn verfolgt, der
sich ihm in seinen langen Professorenmantel steckt und die wohlgeleg¬
ten Falten seiner altbackenem Aesthetik sehr kategorisch zerzaust und
zerreißt und dann grinsend durch die Löcher guckt; der sich ihm auf
den Rücken hockt und in sinnverwirrender Umarmung lustig ihn zum
grausen Todtentänze reißt.

Ist Hegel schon todt zu dieser unserer Stunde, wie soll Shak-
speare noch leben für uns! "An sich und an und für sich" mag
und wird er leben in Ewigkeit, aber für uns: so daß er für uns
noch wirkte, arbeitete, daß er uns hälfe werben und schaffen um das,
was uns Noth thut? Die Todten fühlen nicht.

Und den soll ich zu den Lebenden zahlen, der kein fühlendes
Herz für die lebendige, gegenwärtige, kränkelnde, hungersterbende Men¬
schenwelt hat? "Die großen Ausrufungszeichen am Horizont der
Gegenwart heißen: Armuth und Verbrechen." Aber freilich, die opium¬
schlaffen, fleischeslüsternen Moslemin, schicken nur Blinde auf die Mi¬
narets, um den Tag mit seinem Beten und Arbeiten anrufen zu las¬
sen. Am Tisch des Sybariten gibt es keine Kategorie für die Ar¬
muth. Ein "Philosoph", dessen tiefstes und offenbarstes Geheimniß
die Weisheit ist, die da sagt: Lasset uns essen und trinken, denn
morgen sind wir todt; ja ein Gedanke, der im Genusse des Lebens
aufgeht, hat kein Organen für "Armuth und Verbrechen."

Daß der Epikuräer darum seine Finger blos mit den fetten
Brühen und saftigen Bissen der ^"die "UM" beflecke, weil er jene
riesengroßen Ausrufungszeichen am Horizont der Gegenwart nicht
sieht und kategoriengeblendet nicht sehen kann und Weltgeistentwicke-


ren. An der Vergangenheit können wir nur sterben und im besten
Fall sterben lernen. Der Dienst ist groß. den sie uns damit thut.
Wir schleppen so viel Todtes mit herein in die Gegenwart, welche
dadurch nur zu einem Schein, vielmehr zur plötzlichen Vergangenheit,
d. h. zum Tod für uns wird. Diesem müssen wir absterben, von
der Geschichte belehrt und gemahnt, daß es ein Gewesenes und Ver¬
wesendes ist, also nur durch Einen, der das Leben „von und in ihm
selber" hat, zu einem Seienden und Werdenden erweckt und beseelt,
begeistigt und verleiblicht werden kann.

Wer die Philosophie blos als Buchhalterin der Vergangenheit
hat, der hat den Tod in ihm selber; den Tod, dem er nicht abster¬
ben kann, den er nicht wegschütteln kann; der ihn verfolgt, der
sich ihm in seinen langen Professorenmantel steckt und die wohlgeleg¬
ten Falten seiner altbackenem Aesthetik sehr kategorisch zerzaust und
zerreißt und dann grinsend durch die Löcher guckt; der sich ihm auf
den Rücken hockt und in sinnverwirrender Umarmung lustig ihn zum
grausen Todtentänze reißt.

Ist Hegel schon todt zu dieser unserer Stunde, wie soll Shak-
speare noch leben für uns! „An sich und an und für sich" mag
und wird er leben in Ewigkeit, aber für uns: so daß er für uns
noch wirkte, arbeitete, daß er uns hälfe werben und schaffen um das,
was uns Noth thut? Die Todten fühlen nicht.

Und den soll ich zu den Lebenden zahlen, der kein fühlendes
Herz für die lebendige, gegenwärtige, kränkelnde, hungersterbende Men¬
schenwelt hat? „Die großen Ausrufungszeichen am Horizont der
Gegenwart heißen: Armuth und Verbrechen." Aber freilich, die opium¬
schlaffen, fleischeslüsternen Moslemin, schicken nur Blinde auf die Mi¬
narets, um den Tag mit seinem Beten und Arbeiten anrufen zu las¬
sen. Am Tisch des Sybariten gibt es keine Kategorie für die Ar¬
muth. Ein „Philosoph", dessen tiefstes und offenbarstes Geheimniß
die Weisheit ist, die da sagt: Lasset uns essen und trinken, denn
morgen sind wir todt; ja ein Gedanke, der im Genusse des Lebens
aufgeht, hat kein Organen für „Armuth und Verbrechen."

Daß der Epikuräer darum seine Finger blos mit den fetten
Brühen und saftigen Bissen der ^»die «UM« beflecke, weil er jene
riesengroßen Ausrufungszeichen am Horizont der Gegenwart nicht
sieht und kategoriengeblendet nicht sehen kann und Weltgeistentwicke-


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[0298] ren. An der Vergangenheit können wir nur sterben und im besten Fall sterben lernen. Der Dienst ist groß. den sie uns damit thut. Wir schleppen so viel Todtes mit herein in die Gegenwart, welche dadurch nur zu einem Schein, vielmehr zur plötzlichen Vergangenheit, d. h. zum Tod für uns wird. Diesem müssen wir absterben, von der Geschichte belehrt und gemahnt, daß es ein Gewesenes und Ver¬ wesendes ist, also nur durch Einen, der das Leben „von und in ihm selber" hat, zu einem Seienden und Werdenden erweckt und beseelt, begeistigt und verleiblicht werden kann. Wer die Philosophie blos als Buchhalterin der Vergangenheit hat, der hat den Tod in ihm selber; den Tod, dem er nicht abster¬ ben kann, den er nicht wegschütteln kann; der ihn verfolgt, der sich ihm in seinen langen Professorenmantel steckt und die wohlgeleg¬ ten Falten seiner altbackenem Aesthetik sehr kategorisch zerzaust und zerreißt und dann grinsend durch die Löcher guckt; der sich ihm auf den Rücken hockt und in sinnverwirrender Umarmung lustig ihn zum grausen Todtentänze reißt. Ist Hegel schon todt zu dieser unserer Stunde, wie soll Shak- speare noch leben für uns! „An sich und an und für sich" mag und wird er leben in Ewigkeit, aber für uns: so daß er für uns noch wirkte, arbeitete, daß er uns hälfe werben und schaffen um das, was uns Noth thut? Die Todten fühlen nicht. Und den soll ich zu den Lebenden zahlen, der kein fühlendes Herz für die lebendige, gegenwärtige, kränkelnde, hungersterbende Men¬ schenwelt hat? „Die großen Ausrufungszeichen am Horizont der Gegenwart heißen: Armuth und Verbrechen." Aber freilich, die opium¬ schlaffen, fleischeslüsternen Moslemin, schicken nur Blinde auf die Mi¬ narets, um den Tag mit seinem Beten und Arbeiten anrufen zu las¬ sen. Am Tisch des Sybariten gibt es keine Kategorie für die Ar¬ muth. Ein „Philosoph", dessen tiefstes und offenbarstes Geheimniß die Weisheit ist, die da sagt: Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir todt; ja ein Gedanke, der im Genusse des Lebens aufgeht, hat kein Organen für „Armuth und Verbrechen." Daß der Epikuräer darum seine Finger blos mit den fetten Brühen und saftigen Bissen der ^»die «UM« beflecke, weil er jene riesengroßen Ausrufungszeichen am Horizont der Gegenwart nicht sieht und kategoriengeblendet nicht sehen kann und Weltgeistentwicke-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/298>, abgerufen am 23.12.2024.