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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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Reiz noch unbekannt ist, bald, weil die strenge Tugend der Heldin
über den Ausdruck eines Gefühls unruhig wird, welches ihre hohen
Eltern ihr nicht zu theilen erlauben. Der Held erklärt und beweist,
daß er von hoher Geburt sei; und jetzt läßt man ihn errathen, daß man
eine leise Neigung fühle, ihn nicht zu hassen (Styl jener Zeit). Im
neunten Theile gesteht man ihm mit niedergeschlagenen Augen, daß
man ihn genügend achte, um sich nicht von seiner Liebe beleidigt zu
fühlen und um zu wünschen, daß diese Liebe ewig sei; endlich im
zehnten versteht man sich mit Einwilligung der Eltern zu einer ent¬
schiedenen Erklärung und endigt mit einer Heirath; und sie waren,
sagt der Erzähler, "so glücklich, daß man es nicht mehr sein kann."
Zuweilen hat der Roman e..im tragischen Ausgang; die Heldin ist
an einen Andern verheirathet, und da der Ehebruch in den Büchern
von damals wenig in Gebrauch war, stirbt sie vor Schmerz, und
der Geliebte beeilt sich, ihr in das Grab zu folgen; "glücklich, sagt
der Autor, die nicht überlebt zu haben, für die er allein lebte, und
freudig in den Tod gehend, weil er damit ein so schönes Beispiel
der reinsten und wahrhaftigsten Leidenschaft, die seine Seele je ge-
fühlt, gegeben hatte!"

Hinzufügen muß ich noch, daß diese zehn Bände (und soviel
hatte man zu einem Roman damals unumgänglich nothwendig) vollge-
Propst sind von einer Menge kleiner Geschichten, welche die Neben¬
personen einander erzählen; diese Nebenpartien verbinden sich wohl
oder übel mit dem Hauptsujet, geben aber dem Roman eine große
Mannigfaltigkeit an Vorfällen und Abenteuern. Was nur die
Phantasie Wunderbares erzeugen, was nur an Wendungen und
Umschweifen der rafsinirteste Geist erfinden kann, um die tausend
Schattirungen eines Gedankens zu geben, findet sich hier. Alles
aber ist rhetorisch, anstatt leidenschaftlich, manierirt, anspruchsvoll,
weitschweifig, geschraubt noch mehr dem Gehalt als der Form nach;
ohne Plan, ohne Verbindung, ohne Logik; aber doch wieder rein,
zart und ritterlich; man trifft nicht auf die mindeste Alkoven- oder
Boudoirscene, auf kein Bild, welches fähig wäre, das zarteste Ge¬
fühl zu verletzen; die Keuschheit des Styles kommt dem Adel der
Gedanken gleich. Doch außerhalb dieser idealen und platonischen,
von den Schöngeistern jener Zeit so sehr geliebten Welt ging die
wirkliche ihren gewöhnlichen Gang fort.


Reiz noch unbekannt ist, bald, weil die strenge Tugend der Heldin
über den Ausdruck eines Gefühls unruhig wird, welches ihre hohen
Eltern ihr nicht zu theilen erlauben. Der Held erklärt und beweist,
daß er von hoher Geburt sei; und jetzt läßt man ihn errathen, daß man
eine leise Neigung fühle, ihn nicht zu hassen (Styl jener Zeit). Im
neunten Theile gesteht man ihm mit niedergeschlagenen Augen, daß
man ihn genügend achte, um sich nicht von seiner Liebe beleidigt zu
fühlen und um zu wünschen, daß diese Liebe ewig sei; endlich im
zehnten versteht man sich mit Einwilligung der Eltern zu einer ent¬
schiedenen Erklärung und endigt mit einer Heirath; und sie waren,
sagt der Erzähler, „so glücklich, daß man es nicht mehr sein kann."
Zuweilen hat der Roman e..im tragischen Ausgang; die Heldin ist
an einen Andern verheirathet, und da der Ehebruch in den Büchern
von damals wenig in Gebrauch war, stirbt sie vor Schmerz, und
der Geliebte beeilt sich, ihr in das Grab zu folgen; „glücklich, sagt
der Autor, die nicht überlebt zu haben, für die er allein lebte, und
freudig in den Tod gehend, weil er damit ein so schönes Beispiel
der reinsten und wahrhaftigsten Leidenschaft, die seine Seele je ge-
fühlt, gegeben hatte!"

Hinzufügen muß ich noch, daß diese zehn Bände (und soviel
hatte man zu einem Roman damals unumgänglich nothwendig) vollge-
Propst sind von einer Menge kleiner Geschichten, welche die Neben¬
personen einander erzählen; diese Nebenpartien verbinden sich wohl
oder übel mit dem Hauptsujet, geben aber dem Roman eine große
Mannigfaltigkeit an Vorfällen und Abenteuern. Was nur die
Phantasie Wunderbares erzeugen, was nur an Wendungen und
Umschweifen der rafsinirteste Geist erfinden kann, um die tausend
Schattirungen eines Gedankens zu geben, findet sich hier. Alles
aber ist rhetorisch, anstatt leidenschaftlich, manierirt, anspruchsvoll,
weitschweifig, geschraubt noch mehr dem Gehalt als der Form nach;
ohne Plan, ohne Verbindung, ohne Logik; aber doch wieder rein,
zart und ritterlich; man trifft nicht auf die mindeste Alkoven- oder
Boudoirscene, auf kein Bild, welches fähig wäre, das zarteste Ge¬
fühl zu verletzen; die Keuschheit des Styles kommt dem Adel der
Gedanken gleich. Doch außerhalb dieser idealen und platonischen,
von den Schöngeistern jener Zeit so sehr geliebten Welt ging die
wirkliche ihren gewöhnlichen Gang fort.


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[0029] Reiz noch unbekannt ist, bald, weil die strenge Tugend der Heldin über den Ausdruck eines Gefühls unruhig wird, welches ihre hohen Eltern ihr nicht zu theilen erlauben. Der Held erklärt und beweist, daß er von hoher Geburt sei; und jetzt läßt man ihn errathen, daß man eine leise Neigung fühle, ihn nicht zu hassen (Styl jener Zeit). Im neunten Theile gesteht man ihm mit niedergeschlagenen Augen, daß man ihn genügend achte, um sich nicht von seiner Liebe beleidigt zu fühlen und um zu wünschen, daß diese Liebe ewig sei; endlich im zehnten versteht man sich mit Einwilligung der Eltern zu einer ent¬ schiedenen Erklärung und endigt mit einer Heirath; und sie waren, sagt der Erzähler, „so glücklich, daß man es nicht mehr sein kann." Zuweilen hat der Roman e..im tragischen Ausgang; die Heldin ist an einen Andern verheirathet, und da der Ehebruch in den Büchern von damals wenig in Gebrauch war, stirbt sie vor Schmerz, und der Geliebte beeilt sich, ihr in das Grab zu folgen; „glücklich, sagt der Autor, die nicht überlebt zu haben, für die er allein lebte, und freudig in den Tod gehend, weil er damit ein so schönes Beispiel der reinsten und wahrhaftigsten Leidenschaft, die seine Seele je ge- fühlt, gegeben hatte!" Hinzufügen muß ich noch, daß diese zehn Bände (und soviel hatte man zu einem Roman damals unumgänglich nothwendig) vollge- Propst sind von einer Menge kleiner Geschichten, welche die Neben¬ personen einander erzählen; diese Nebenpartien verbinden sich wohl oder übel mit dem Hauptsujet, geben aber dem Roman eine große Mannigfaltigkeit an Vorfällen und Abenteuern. Was nur die Phantasie Wunderbares erzeugen, was nur an Wendungen und Umschweifen der rafsinirteste Geist erfinden kann, um die tausend Schattirungen eines Gedankens zu geben, findet sich hier. Alles aber ist rhetorisch, anstatt leidenschaftlich, manierirt, anspruchsvoll, weitschweifig, geschraubt noch mehr dem Gehalt als der Form nach; ohne Plan, ohne Verbindung, ohne Logik; aber doch wieder rein, zart und ritterlich; man trifft nicht auf die mindeste Alkoven- oder Boudoirscene, auf kein Bild, welches fähig wäre, das zarteste Ge¬ fühl zu verletzen; die Keuschheit des Styles kommt dem Adel der Gedanken gleich. Doch außerhalb dieser idealen und platonischen, von den Schöngeistern jener Zeit so sehr geliebten Welt ging die wirkliche ihren gewöhnlichen Gang fort.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/29>, abgerufen am 23.12.2024.