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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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Dinaur schrieb, wollen wir hier übergehen, da es ein sehr mittel¬
mäßiges Stück ist.

Was die drei anderen Dramen betrifft, so sind sie, glauben wir,
die besten Werke von Dumas und der stärkste Beweis, den er je¬
mals von seiner Originalität gegeben hat. Befreit von dem histori¬
schen Raritätenkram, der seiner ungeschulten, aber lebendigen Prosa
etwas schleppendes und Schwülstiges gibt; befreit von dem Zwange
des Alexandriners, in dem sich seine Feder verwickelte und verlor, tritt
der Verfasser von Antony, Teresa und Angele in seiner wahren Ge¬
stalt, seinen wahren Vorzügen und Fehlen vor uns, mehr ungestüm
als energisch, mehr fieberhaft aufgeregt als glühend, mehr sinnlich als
leidenschaftlich, unbekannt mit den versteckten Geheimnissen des Her¬
zens, aber vertraut mit allen Launen des anderen Theiles der mensch¬
lichen Organisation, die so Nuistro das Thier nennt. Hingerissen
von seinem Materialismus, opfert Dumas das Ideale, welches er
mißkennt, ganz dem Realen auf, welches er übertreibt und fälscht;
den Geist den Sinnen, die Seele dem Körper; aber da der reine
und einfache Materialismus sehr wenig Poetisches hat, hüllt er ihn
in ein fremdes Gewand; er kleidet die sinnliche Wildheit in Leiden¬
schaft, den Egoismus in Hingebung, das Laster in Tugend, und je^
der dieser so costümirten Typen vertritt den Charakter deö Tages
mit der Schärfe der Wahrheit.

Man hat viel gegen die Jmmoralität des Dramas Antony de^
battirt; ich glaube selbst, seine Darstellung ist einmal verboten gewe¬
sen. -- Ich will die Moralität Antony'S nicht vertheidigen; es ist
der wüthendste von jenen tausend Angriffen aus die Ehre, die wäh¬
rend der Periode sittlicher und geistiger Zuchtlosigkeit, die unmittel¬
bar nach der Julirevolution eintrat, zu Tage kamen. Uebrigens liegt
die Unsittlichkeit Antony's viel mehr in den Situationen, als in den
Gedanken und in der Sprache, und das Drama ist eigentlich viel
mehr fehlerhaft, als unmoralisch. -- Doch, so unreif und -widerwär¬
tig diese drei Dramen in gewissen Theilen, so fehlerhaft sie im Gan¬
zen sind, so finden sich doch auch Scenen voll rührenden Gefühles
und heißer Leidenschaft darin. Um Antony, Teresa und Angele zu drei
schönen Werken zu machen, hätte Dumas weiter Nichts gebraucht,
als ein wenig mehr Jdealisirung, ein wenig mehr Nachdenken, ein
wenig mehr Arbeit und ein wenig mehr von jener kostbaren Eigen"


Dinaur schrieb, wollen wir hier übergehen, da es ein sehr mittel¬
mäßiges Stück ist.

Was die drei anderen Dramen betrifft, so sind sie, glauben wir,
die besten Werke von Dumas und der stärkste Beweis, den er je¬
mals von seiner Originalität gegeben hat. Befreit von dem histori¬
schen Raritätenkram, der seiner ungeschulten, aber lebendigen Prosa
etwas schleppendes und Schwülstiges gibt; befreit von dem Zwange
des Alexandriners, in dem sich seine Feder verwickelte und verlor, tritt
der Verfasser von Antony, Teresa und Angele in seiner wahren Ge¬
stalt, seinen wahren Vorzügen und Fehlen vor uns, mehr ungestüm
als energisch, mehr fieberhaft aufgeregt als glühend, mehr sinnlich als
leidenschaftlich, unbekannt mit den versteckten Geheimnissen des Her¬
zens, aber vertraut mit allen Launen des anderen Theiles der mensch¬
lichen Organisation, die so Nuistro das Thier nennt. Hingerissen
von seinem Materialismus, opfert Dumas das Ideale, welches er
mißkennt, ganz dem Realen auf, welches er übertreibt und fälscht;
den Geist den Sinnen, die Seele dem Körper; aber da der reine
und einfache Materialismus sehr wenig Poetisches hat, hüllt er ihn
in ein fremdes Gewand; er kleidet die sinnliche Wildheit in Leiden¬
schaft, den Egoismus in Hingebung, das Laster in Tugend, und je^
der dieser so costümirten Typen vertritt den Charakter deö Tages
mit der Schärfe der Wahrheit.

Man hat viel gegen die Jmmoralität des Dramas Antony de^
battirt; ich glaube selbst, seine Darstellung ist einmal verboten gewe¬
sen. — Ich will die Moralität Antony'S nicht vertheidigen; es ist
der wüthendste von jenen tausend Angriffen aus die Ehre, die wäh¬
rend der Periode sittlicher und geistiger Zuchtlosigkeit, die unmittel¬
bar nach der Julirevolution eintrat, zu Tage kamen. Uebrigens liegt
die Unsittlichkeit Antony's viel mehr in den Situationen, als in den
Gedanken und in der Sprache, und das Drama ist eigentlich viel
mehr fehlerhaft, als unmoralisch. — Doch, so unreif und -widerwär¬
tig diese drei Dramen in gewissen Theilen, so fehlerhaft sie im Gan¬
zen sind, so finden sich doch auch Scenen voll rührenden Gefühles
und heißer Leidenschaft darin. Um Antony, Teresa und Angele zu drei
schönen Werken zu machen, hätte Dumas weiter Nichts gebraucht,
als ein wenig mehr Jdealisirung, ein wenig mehr Nachdenken, ein
wenig mehr Arbeit und ein wenig mehr von jener kostbaren Eigen«


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[0284] Dinaur schrieb, wollen wir hier übergehen, da es ein sehr mittel¬ mäßiges Stück ist. Was die drei anderen Dramen betrifft, so sind sie, glauben wir, die besten Werke von Dumas und der stärkste Beweis, den er je¬ mals von seiner Originalität gegeben hat. Befreit von dem histori¬ schen Raritätenkram, der seiner ungeschulten, aber lebendigen Prosa etwas schleppendes und Schwülstiges gibt; befreit von dem Zwange des Alexandriners, in dem sich seine Feder verwickelte und verlor, tritt der Verfasser von Antony, Teresa und Angele in seiner wahren Ge¬ stalt, seinen wahren Vorzügen und Fehlen vor uns, mehr ungestüm als energisch, mehr fieberhaft aufgeregt als glühend, mehr sinnlich als leidenschaftlich, unbekannt mit den versteckten Geheimnissen des Her¬ zens, aber vertraut mit allen Launen des anderen Theiles der mensch¬ lichen Organisation, die so Nuistro das Thier nennt. Hingerissen von seinem Materialismus, opfert Dumas das Ideale, welches er mißkennt, ganz dem Realen auf, welches er übertreibt und fälscht; den Geist den Sinnen, die Seele dem Körper; aber da der reine und einfache Materialismus sehr wenig Poetisches hat, hüllt er ihn in ein fremdes Gewand; er kleidet die sinnliche Wildheit in Leiden¬ schaft, den Egoismus in Hingebung, das Laster in Tugend, und je^ der dieser so costümirten Typen vertritt den Charakter deö Tages mit der Schärfe der Wahrheit. Man hat viel gegen die Jmmoralität des Dramas Antony de^ battirt; ich glaube selbst, seine Darstellung ist einmal verboten gewe¬ sen. — Ich will die Moralität Antony'S nicht vertheidigen; es ist der wüthendste von jenen tausend Angriffen aus die Ehre, die wäh¬ rend der Periode sittlicher und geistiger Zuchtlosigkeit, die unmittel¬ bar nach der Julirevolution eintrat, zu Tage kamen. Uebrigens liegt die Unsittlichkeit Antony's viel mehr in den Situationen, als in den Gedanken und in der Sprache, und das Drama ist eigentlich viel mehr fehlerhaft, als unmoralisch. — Doch, so unreif und -widerwär¬ tig diese drei Dramen in gewissen Theilen, so fehlerhaft sie im Gan¬ zen sind, so finden sich doch auch Scenen voll rührenden Gefühles und heißer Leidenschaft darin. Um Antony, Teresa und Angele zu drei schönen Werken zu machen, hätte Dumas weiter Nichts gebraucht, als ein wenig mehr Jdealisirung, ein wenig mehr Nachdenken, ein wenig mehr Arbeit und ein wenig mehr von jener kostbaren Eigen«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/284>, abgerufen am 23.07.2024.