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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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mehr, zwischen Shakspeare und dem Autor von Henri III. finde ich
keine andere Aehnlichkeit, als das gänzliche Lossagen von der classi¬
schen Regel der Einheiten. Shakspeare ist ein großer Dichter, ein
tiefer Denker, ein bewundernswerther Charakterzeichner; nun sind aber
der Idealismus, die Poesie, die Tiefe und die Wahrheit der Charak¬
terzeichnung gerade die schwachen Seiten des Dramas Henri III.
und überhaupt in allen Dramen von Dumas. Shakspeare dagegen
versteht sich nicht auf die Localfärbung und Sittenschilderung; er be¬
geht die gröbsten Anachronismen; seine Jnscenesetzung ist fehlerhaft;
die Gruppirung der verschiedenen Theile seines Werkes ist nichts
weniger als geschickt; die Handlung ist fast immer schleppend und
mit einer Menge Episoden und Nebenwerk überladen, wo sich die
Barbarei seiner Zeit und seines Publicums in obscönen Witzen und
faden Wortspielen zeigt. '

Wenn sich einige dieser Fehler, vorzüglich der übermäßige Ge¬
brauch von Episoden, in Henri III. und den übrigen Dramen Du¬
mas' zeigen, so muß man dagegen sagen, daß im Allgemeinen Shak-
speare's schwache Seite seine starke ist. Der Verfasser von Angela,
Antony und Terese, dem Jdealisirung, großartige Weltanschauung,
Tiefe der Gedanken mangelt, glänzt gerade durch sein Verständniß
der mehr materiellen Seite des Dramas, durch Geschicklichkeit der
Jnscenesetzung, das Interesse der Situationen, die ungestüme Schnel¬
ligkeit der Handlung. Nun kann aber Dumas diese Vorzüge nicht
dem Studium Shakspeare's verdanken, da der englische Dramatiker
sie nicht besitzt; er hat sie aus sich selbst genommen, und sie haben
sich in ihm entwickelt durch die Reihe von Einwirkungen, welche die
Bewegung des Geistes und der Literatur seiner Zeit auf ihn gemacht
hat.

Zu der Zeit, wo der jugendliche Secretär des Palais Royal
Vaudevilles und eine classische Tragödie schrieb, zeigte sich die ro¬
mantische Revolution offen, wenn nicht auf der Bühne, so doch in
den Büchern. Als Dumas sich ärgerte, daß seine classische Chri¬
stine in dem Portefeuille der Oomvlliv frau^ise liegen blieb, beschloß
er ein romantisches Drama zu schreiben, zu derselben Zeit, wo Vic¬
tor Hugo seine Marion Delorme veröffentlichte; daraus geht klar her¬
vor, daß eine Offenbarung von Shakspeare für ihn nicht nöthig war.
Selbst wenn man von den nicht dargestellten Dramen absieht, waren


mehr, zwischen Shakspeare und dem Autor von Henri III. finde ich
keine andere Aehnlichkeit, als das gänzliche Lossagen von der classi¬
schen Regel der Einheiten. Shakspeare ist ein großer Dichter, ein
tiefer Denker, ein bewundernswerther Charakterzeichner; nun sind aber
der Idealismus, die Poesie, die Tiefe und die Wahrheit der Charak¬
terzeichnung gerade die schwachen Seiten des Dramas Henri III.
und überhaupt in allen Dramen von Dumas. Shakspeare dagegen
versteht sich nicht auf die Localfärbung und Sittenschilderung; er be¬
geht die gröbsten Anachronismen; seine Jnscenesetzung ist fehlerhaft;
die Gruppirung der verschiedenen Theile seines Werkes ist nichts
weniger als geschickt; die Handlung ist fast immer schleppend und
mit einer Menge Episoden und Nebenwerk überladen, wo sich die
Barbarei seiner Zeit und seines Publicums in obscönen Witzen und
faden Wortspielen zeigt. '

Wenn sich einige dieser Fehler, vorzüglich der übermäßige Ge¬
brauch von Episoden, in Henri III. und den übrigen Dramen Du¬
mas' zeigen, so muß man dagegen sagen, daß im Allgemeinen Shak-
speare's schwache Seite seine starke ist. Der Verfasser von Angela,
Antony und Terese, dem Jdealisirung, großartige Weltanschauung,
Tiefe der Gedanken mangelt, glänzt gerade durch sein Verständniß
der mehr materiellen Seite des Dramas, durch Geschicklichkeit der
Jnscenesetzung, das Interesse der Situationen, die ungestüme Schnel¬
ligkeit der Handlung. Nun kann aber Dumas diese Vorzüge nicht
dem Studium Shakspeare's verdanken, da der englische Dramatiker
sie nicht besitzt; er hat sie aus sich selbst genommen, und sie haben
sich in ihm entwickelt durch die Reihe von Einwirkungen, welche die
Bewegung des Geistes und der Literatur seiner Zeit auf ihn gemacht
hat.

Zu der Zeit, wo der jugendliche Secretär des Palais Royal
Vaudevilles und eine classische Tragödie schrieb, zeigte sich die ro¬
mantische Revolution offen, wenn nicht auf der Bühne, so doch in
den Büchern. Als Dumas sich ärgerte, daß seine classische Chri¬
stine in dem Portefeuille der Oomvlliv frau^ise liegen blieb, beschloß
er ein romantisches Drama zu schreiben, zu derselben Zeit, wo Vic¬
tor Hugo seine Marion Delorme veröffentlichte; daraus geht klar her¬
vor, daß eine Offenbarung von Shakspeare für ihn nicht nöthig war.
Selbst wenn man von den nicht dargestellten Dramen absieht, waren


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[0280] mehr, zwischen Shakspeare und dem Autor von Henri III. finde ich keine andere Aehnlichkeit, als das gänzliche Lossagen von der classi¬ schen Regel der Einheiten. Shakspeare ist ein großer Dichter, ein tiefer Denker, ein bewundernswerther Charakterzeichner; nun sind aber der Idealismus, die Poesie, die Tiefe und die Wahrheit der Charak¬ terzeichnung gerade die schwachen Seiten des Dramas Henri III. und überhaupt in allen Dramen von Dumas. Shakspeare dagegen versteht sich nicht auf die Localfärbung und Sittenschilderung; er be¬ geht die gröbsten Anachronismen; seine Jnscenesetzung ist fehlerhaft; die Gruppirung der verschiedenen Theile seines Werkes ist nichts weniger als geschickt; die Handlung ist fast immer schleppend und mit einer Menge Episoden und Nebenwerk überladen, wo sich die Barbarei seiner Zeit und seines Publicums in obscönen Witzen und faden Wortspielen zeigt. ' Wenn sich einige dieser Fehler, vorzüglich der übermäßige Ge¬ brauch von Episoden, in Henri III. und den übrigen Dramen Du¬ mas' zeigen, so muß man dagegen sagen, daß im Allgemeinen Shak- speare's schwache Seite seine starke ist. Der Verfasser von Angela, Antony und Terese, dem Jdealisirung, großartige Weltanschauung, Tiefe der Gedanken mangelt, glänzt gerade durch sein Verständniß der mehr materiellen Seite des Dramas, durch Geschicklichkeit der Jnscenesetzung, das Interesse der Situationen, die ungestüme Schnel¬ ligkeit der Handlung. Nun kann aber Dumas diese Vorzüge nicht dem Studium Shakspeare's verdanken, da der englische Dramatiker sie nicht besitzt; er hat sie aus sich selbst genommen, und sie haben sich in ihm entwickelt durch die Reihe von Einwirkungen, welche die Bewegung des Geistes und der Literatur seiner Zeit auf ihn gemacht hat. Zu der Zeit, wo der jugendliche Secretär des Palais Royal Vaudevilles und eine classische Tragödie schrieb, zeigte sich die ro¬ mantische Revolution offen, wenn nicht auf der Bühne, so doch in den Büchern. Als Dumas sich ärgerte, daß seine classische Chri¬ stine in dem Portefeuille der Oomvlliv frau^ise liegen blieb, beschloß er ein romantisches Drama zu schreiben, zu derselben Zeit, wo Vic¬ tor Hugo seine Marion Delorme veröffentlichte; daraus geht klar her¬ vor, daß eine Offenbarung von Shakspeare für ihn nicht nöthig war. Selbst wenn man von den nicht dargestellten Dramen absieht, waren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/280>, abgerufen am 23.07.2024.