Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

lion verjüngen will, will man doch nicht ganz mit ihr brechen.
Lemercier, Lebrun, Delavigne und einige Andere vertreten die ver¬
schiedenen Stufen dieser ersten revolutionären Periode, die als das
Jahr 1789 der Bühne betrachtet werden kann. Ende 1829 fing
die Girondisten- und Bergpartei des Theaters schon an, über die
Partei der Constituante zu siegen. Vitet hatte seine 8etre8 liisto-
ri^ues, Merrimee sein l^nviUrv <le l^Iiu-k <Z-"ilI geschrieben. Alfred
de Mgny hatte den Othello Shakspeare's auf die Bühne gebracht;
Victor Hugo hatte Cromwell und Marion Delorme geschrieben und
bereitete Hcrnani vor; endlich hatte Alexander Dumas seinen Henri Hi.
auf der Bühne gesehen.

Die Julitage erschienen, und mit diesem letzten Akte, diesem ge¬
mäßigten und friedlichen Schluß der großen politischen Revolution,
sängt die wildeste Periode der theatralischen Revolution an; der un¬
gebundenste dramatische Terrorismus pflanzt sein Banner inmitten
einer regelmäßigen, prosaischen, stillbürgerlichen Gesellschaft auf. Das
Theater wird wie mit einer blutigen Fluch von Ermordungen, Blut¬
schande, Ehebruch, Nothzucht, heimlichen Geburten überschwemmt, mit
dem Schaffst und dem Henker als Dvus ex "mcliina im Hinter¬
grund; das Ganze untermischt mit mittelalterlichen Masqueradcn und
Aufzügen mit einem Ueberfluß von Heroldsröcken, Harnischen, Eisen¬
handschuhen, Degen von Mailand, Dolchen von Toledo, vergifteten
Messern, Strickleitern und derlei dramatischen Bindfaden zum Zu¬
sammenhalten des lockern Gewebes mehr. Der Dialog war eine
Mischung von Trivialität und Schwulst, reicher an Worten als an
Gedanken, und überreichlich gewürzt mit rittermäßigen Flüchen: töte-
Dien! K/MA-Vieu! la mon vient DmimiUilin! Mlieilietion!
Dies war das 1793 des Theaters. Diese dramatische Periode um¬
faßt die sieben oder acht ersten Jahre nach der Julirevolution.

Während dieser ganzen Zeit schienen die Kunst und der Ge¬
danke ganz dem Haschen nach Gemüthsaufregung, hervorgebracht
durch materiellen Effect, und der groben Augenlust untergeordnet
M sein. Dieser dramatische Terrorismus hat mehrere Berührung^
punkte mit dem politischen, bei Beiden findet sich dieselbe ungestüme
und rohe Reaction gegen alle Ueberlieferung, gegen alle Regel, alle
Mäßigung, alle Keuschheit des Styls und der Erfindung, alle Ar¬
beit des Geistes und der Sprache. Bei Beiden handelt es sich dar-


lion verjüngen will, will man doch nicht ganz mit ihr brechen.
Lemercier, Lebrun, Delavigne und einige Andere vertreten die ver¬
schiedenen Stufen dieser ersten revolutionären Periode, die als das
Jahr 1789 der Bühne betrachtet werden kann. Ende 1829 fing
die Girondisten- und Bergpartei des Theaters schon an, über die
Partei der Constituante zu siegen. Vitet hatte seine 8etre8 liisto-
ri^ues, Merrimee sein l^nviUrv <le l^Iiu-k <Z-»ilI geschrieben. Alfred
de Mgny hatte den Othello Shakspeare's auf die Bühne gebracht;
Victor Hugo hatte Cromwell und Marion Delorme geschrieben und
bereitete Hcrnani vor; endlich hatte Alexander Dumas seinen Henri Hi.
auf der Bühne gesehen.

Die Julitage erschienen, und mit diesem letzten Akte, diesem ge¬
mäßigten und friedlichen Schluß der großen politischen Revolution,
sängt die wildeste Periode der theatralischen Revolution an; der un¬
gebundenste dramatische Terrorismus pflanzt sein Banner inmitten
einer regelmäßigen, prosaischen, stillbürgerlichen Gesellschaft auf. Das
Theater wird wie mit einer blutigen Fluch von Ermordungen, Blut¬
schande, Ehebruch, Nothzucht, heimlichen Geburten überschwemmt, mit
dem Schaffst und dem Henker als Dvus ex «mcliina im Hinter¬
grund; das Ganze untermischt mit mittelalterlichen Masqueradcn und
Aufzügen mit einem Ueberfluß von Heroldsröcken, Harnischen, Eisen¬
handschuhen, Degen von Mailand, Dolchen von Toledo, vergifteten
Messern, Strickleitern und derlei dramatischen Bindfaden zum Zu¬
sammenhalten des lockern Gewebes mehr. Der Dialog war eine
Mischung von Trivialität und Schwulst, reicher an Worten als an
Gedanken, und überreichlich gewürzt mit rittermäßigen Flüchen: töte-
Dien! K/MA-Vieu! la mon vient DmimiUilin! Mlieilietion!
Dies war das 1793 des Theaters. Diese dramatische Periode um¬
faßt die sieben oder acht ersten Jahre nach der Julirevolution.

Während dieser ganzen Zeit schienen die Kunst und der Ge¬
danke ganz dem Haschen nach Gemüthsaufregung, hervorgebracht
durch materiellen Effect, und der groben Augenlust untergeordnet
M sein. Dieser dramatische Terrorismus hat mehrere Berührung^
punkte mit dem politischen, bei Beiden findet sich dieselbe ungestüme
und rohe Reaction gegen alle Ueberlieferung, gegen alle Regel, alle
Mäßigung, alle Keuschheit des Styls und der Erfindung, alle Ar¬
beit des Geistes und der Sprache. Bei Beiden handelt es sich dar-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0274" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/180833"/>
          <p xml:id="ID_646" prev="#ID_645"> lion verjüngen will, will man doch nicht ganz mit ihr brechen.<lb/>
Lemercier, Lebrun, Delavigne und einige Andere vertreten die ver¬<lb/>
schiedenen Stufen dieser ersten revolutionären Periode, die als das<lb/>
Jahr 1789 der Bühne betrachtet werden kann. Ende 1829 fing<lb/>
die Girondisten- und Bergpartei des Theaters schon an, über die<lb/>
Partei der Constituante zu siegen. Vitet hatte seine 8etre8 liisto-<lb/>
ri^ues, Merrimee sein l^nviUrv &lt;le l^Iiu-k &lt;Z-»ilI geschrieben. Alfred<lb/>
de Mgny hatte den Othello Shakspeare's auf die Bühne gebracht;<lb/>
Victor Hugo hatte Cromwell und Marion Delorme geschrieben und<lb/>
bereitete Hcrnani vor; endlich hatte Alexander Dumas seinen Henri Hi.<lb/>
auf der Bühne gesehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_647"> Die Julitage erschienen, und mit diesem letzten Akte, diesem ge¬<lb/>
mäßigten und friedlichen Schluß der großen politischen Revolution,<lb/>
sängt die wildeste Periode der theatralischen Revolution an; der un¬<lb/>
gebundenste dramatische Terrorismus pflanzt sein Banner inmitten<lb/>
einer regelmäßigen, prosaischen, stillbürgerlichen Gesellschaft auf. Das<lb/>
Theater wird wie mit einer blutigen Fluch von Ermordungen, Blut¬<lb/>
schande, Ehebruch, Nothzucht, heimlichen Geburten überschwemmt, mit<lb/>
dem Schaffst und dem Henker als Dvus ex «mcliina im Hinter¬<lb/>
grund; das Ganze untermischt mit mittelalterlichen Masqueradcn und<lb/>
Aufzügen mit einem Ueberfluß von Heroldsröcken, Harnischen, Eisen¬<lb/>
handschuhen, Degen von Mailand, Dolchen von Toledo, vergifteten<lb/>
Messern, Strickleitern und derlei dramatischen Bindfaden zum Zu¬<lb/>
sammenhalten des lockern Gewebes mehr. Der Dialog war eine<lb/>
Mischung von Trivialität und Schwulst, reicher an Worten als an<lb/>
Gedanken, und überreichlich gewürzt mit rittermäßigen Flüchen: töte-<lb/>
Dien! K/MA-Vieu! la mon vient DmimiUilin! Mlieilietion!<lb/>
Dies war das 1793 des Theaters. Diese dramatische Periode um¬<lb/>
faßt die sieben oder acht ersten Jahre nach der Julirevolution.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_648" next="#ID_649"> Während dieser ganzen Zeit schienen die Kunst und der Ge¬<lb/>
danke ganz dem Haschen nach Gemüthsaufregung, hervorgebracht<lb/>
durch materiellen Effect, und der groben Augenlust untergeordnet<lb/>
M sein. Dieser dramatische Terrorismus hat mehrere Berührung^<lb/>
punkte mit dem politischen, bei Beiden findet sich dieselbe ungestüme<lb/>
und rohe Reaction gegen alle Ueberlieferung, gegen alle Regel, alle<lb/>
Mäßigung, alle Keuschheit des Styls und der Erfindung, alle Ar¬<lb/>
beit des Geistes und der Sprache. Bei Beiden handelt es sich dar-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0274] lion verjüngen will, will man doch nicht ganz mit ihr brechen. Lemercier, Lebrun, Delavigne und einige Andere vertreten die ver¬ schiedenen Stufen dieser ersten revolutionären Periode, die als das Jahr 1789 der Bühne betrachtet werden kann. Ende 1829 fing die Girondisten- und Bergpartei des Theaters schon an, über die Partei der Constituante zu siegen. Vitet hatte seine 8etre8 liisto- ri^ues, Merrimee sein l^nviUrv <le l^Iiu-k <Z-»ilI geschrieben. Alfred de Mgny hatte den Othello Shakspeare's auf die Bühne gebracht; Victor Hugo hatte Cromwell und Marion Delorme geschrieben und bereitete Hcrnani vor; endlich hatte Alexander Dumas seinen Henri Hi. auf der Bühne gesehen. Die Julitage erschienen, und mit diesem letzten Akte, diesem ge¬ mäßigten und friedlichen Schluß der großen politischen Revolution, sängt die wildeste Periode der theatralischen Revolution an; der un¬ gebundenste dramatische Terrorismus pflanzt sein Banner inmitten einer regelmäßigen, prosaischen, stillbürgerlichen Gesellschaft auf. Das Theater wird wie mit einer blutigen Fluch von Ermordungen, Blut¬ schande, Ehebruch, Nothzucht, heimlichen Geburten überschwemmt, mit dem Schaffst und dem Henker als Dvus ex «mcliina im Hinter¬ grund; das Ganze untermischt mit mittelalterlichen Masqueradcn und Aufzügen mit einem Ueberfluß von Heroldsröcken, Harnischen, Eisen¬ handschuhen, Degen von Mailand, Dolchen von Toledo, vergifteten Messern, Strickleitern und derlei dramatischen Bindfaden zum Zu¬ sammenhalten des lockern Gewebes mehr. Der Dialog war eine Mischung von Trivialität und Schwulst, reicher an Worten als an Gedanken, und überreichlich gewürzt mit rittermäßigen Flüchen: töte- Dien! K/MA-Vieu! la mon vient DmimiUilin! Mlieilietion! Dies war das 1793 des Theaters. Diese dramatische Periode um¬ faßt die sieben oder acht ersten Jahre nach der Julirevolution. Während dieser ganzen Zeit schienen die Kunst und der Ge¬ danke ganz dem Haschen nach Gemüthsaufregung, hervorgebracht durch materiellen Effect, und der groben Augenlust untergeordnet M sein. Dieser dramatische Terrorismus hat mehrere Berührung^ punkte mit dem politischen, bei Beiden findet sich dieselbe ungestüme und rohe Reaction gegen alle Ueberlieferung, gegen alle Regel, alle Mäßigung, alle Keuschheit des Styls und der Erfindung, alle Ar¬ beit des Geistes und der Sprache. Bei Beiden handelt es sich dar-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/274
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/274>, abgerufen am 23.12.2024.