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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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den die Engländer fast schon übersetzen müssen, unsterblich ist, ist er
das durch den Styl geworden? Nein, sondern durch die Wahrheit
der Empfindungen und Leidenschaften, durch eine Wahrheit, die nicht
eine individuelle, locale und vorübergehende ist, sondern eine allgemein
menschliche, ewige, welche den großen Schriftstellern die Unsterblichkeit
gibt. Die Romane des Fräulein von Scudery sind vergessen, weil
sie nicht wahr gewesen, und sie konnten Bewunderung finden, obgleich
ihnen nicht allein die absolute, sondern bis zu einem gewissen Punkte
auch die relative Wahrheit fehlte. Ein Romanschriftsteller, wie groß
auch sein Anspruch sei, seine Zeit treu zu schildern, ist kein Geschicht¬
schreiber: er ist ein Poet und als solcher soll er das Schone darstel¬
len, aber das Schöne im Wahren. Wenn seine Erfindungen gemachte
Leidenschaften, flüchtige Launen zu Stützpunkten haben, so kann er
gefallen, so lange diese Leidenschaften und diese Launen dauern, mag
er sie auch noch so sehr übertreiben, noch so willkürlich zeichnen und
ausmalen; aber wenn diese Grundlage schwindet, so fällt das Ganze
zusammen und behält nicht einmal den Werth eines historischen Do-
cumentes. So ist es den Romanen deö Fräulein von Scudery ge¬
gangen.

Wir wollen versuchen, dem Leser einen Begriff von dem Grund¬
plan jener Bücher zu geben, welche unsere Borväter so sehr liebten,
weil sie sich darin mit ihren Gefühlen, ihren Meinungen und ihren
Launen, ihrer Sprache, ihren Lebensgewohnheiten und den ausschwei¬
fenden Träumen ihrer Phantasie wiederfanden. Sie sahen sich darin,
wie sie waren; elegant, geschwätzig, tapfer, raffinirt, verliebt, aber im
Ganzen tugendhaft, und diese kleine Täuschung war nur ein Reiz
mehr.

Der Schauplatz ist in Assyrien, Persien, Aegypten oder Rom;
aber es versteht sich von selbst, daß diese Perser, diese Assyrier, diese
Römer Nichts von ihrem Lande haben, als den Namen. Vier Ei¬
genschaften waren wesentliche Erfordernisse eines Nomcmhelden; er
mußte schön sein, Muth besitzen, Geist haben und von Stande sein.
Häufig war es ein verkleideter Prinz; die Heldin war Königstoch¬
ter, Prinzessin, zum wenigsten eine vornehme Dame und schön wie
der Tag. Das erste Mal sieht man sich im Tempel von Sinope, in
den Gärten von Ekbatana, am Hofe von Babylon oder an den
Ufern der Tiber. Wie heute noch ist der Held auf der Stelle sterb-


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den die Engländer fast schon übersetzen müssen, unsterblich ist, ist er
das durch den Styl geworden? Nein, sondern durch die Wahrheit
der Empfindungen und Leidenschaften, durch eine Wahrheit, die nicht
eine individuelle, locale und vorübergehende ist, sondern eine allgemein
menschliche, ewige, welche den großen Schriftstellern die Unsterblichkeit
gibt. Die Romane des Fräulein von Scudery sind vergessen, weil
sie nicht wahr gewesen, und sie konnten Bewunderung finden, obgleich
ihnen nicht allein die absolute, sondern bis zu einem gewissen Punkte
auch die relative Wahrheit fehlte. Ein Romanschriftsteller, wie groß
auch sein Anspruch sei, seine Zeit treu zu schildern, ist kein Geschicht¬
schreiber: er ist ein Poet und als solcher soll er das Schone darstel¬
len, aber das Schöne im Wahren. Wenn seine Erfindungen gemachte
Leidenschaften, flüchtige Launen zu Stützpunkten haben, so kann er
gefallen, so lange diese Leidenschaften und diese Launen dauern, mag
er sie auch noch so sehr übertreiben, noch so willkürlich zeichnen und
ausmalen; aber wenn diese Grundlage schwindet, so fällt das Ganze
zusammen und behält nicht einmal den Werth eines historischen Do-
cumentes. So ist es den Romanen deö Fräulein von Scudery ge¬
gangen.

Wir wollen versuchen, dem Leser einen Begriff von dem Grund¬
plan jener Bücher zu geben, welche unsere Borväter so sehr liebten,
weil sie sich darin mit ihren Gefühlen, ihren Meinungen und ihren
Launen, ihrer Sprache, ihren Lebensgewohnheiten und den ausschwei¬
fenden Träumen ihrer Phantasie wiederfanden. Sie sahen sich darin,
wie sie waren; elegant, geschwätzig, tapfer, raffinirt, verliebt, aber im
Ganzen tugendhaft, und diese kleine Täuschung war nur ein Reiz
mehr.

Der Schauplatz ist in Assyrien, Persien, Aegypten oder Rom;
aber es versteht sich von selbst, daß diese Perser, diese Assyrier, diese
Römer Nichts von ihrem Lande haben, als den Namen. Vier Ei¬
genschaften waren wesentliche Erfordernisse eines Nomcmhelden; er
mußte schön sein, Muth besitzen, Geist haben und von Stande sein.
Häufig war es ein verkleideter Prinz; die Heldin war Königstoch¬
ter, Prinzessin, zum wenigsten eine vornehme Dame und schön wie
der Tag. Das erste Mal sieht man sich im Tempel von Sinope, in
den Gärten von Ekbatana, am Hofe von Babylon oder an den
Ufern der Tiber. Wie heute noch ist der Held auf der Stelle sterb-


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[0027] den die Engländer fast schon übersetzen müssen, unsterblich ist, ist er das durch den Styl geworden? Nein, sondern durch die Wahrheit der Empfindungen und Leidenschaften, durch eine Wahrheit, die nicht eine individuelle, locale und vorübergehende ist, sondern eine allgemein menschliche, ewige, welche den großen Schriftstellern die Unsterblichkeit gibt. Die Romane des Fräulein von Scudery sind vergessen, weil sie nicht wahr gewesen, und sie konnten Bewunderung finden, obgleich ihnen nicht allein die absolute, sondern bis zu einem gewissen Punkte auch die relative Wahrheit fehlte. Ein Romanschriftsteller, wie groß auch sein Anspruch sei, seine Zeit treu zu schildern, ist kein Geschicht¬ schreiber: er ist ein Poet und als solcher soll er das Schone darstel¬ len, aber das Schöne im Wahren. Wenn seine Erfindungen gemachte Leidenschaften, flüchtige Launen zu Stützpunkten haben, so kann er gefallen, so lange diese Leidenschaften und diese Launen dauern, mag er sie auch noch so sehr übertreiben, noch so willkürlich zeichnen und ausmalen; aber wenn diese Grundlage schwindet, so fällt das Ganze zusammen und behält nicht einmal den Werth eines historischen Do- cumentes. So ist es den Romanen deö Fräulein von Scudery ge¬ gangen. Wir wollen versuchen, dem Leser einen Begriff von dem Grund¬ plan jener Bücher zu geben, welche unsere Borväter so sehr liebten, weil sie sich darin mit ihren Gefühlen, ihren Meinungen und ihren Launen, ihrer Sprache, ihren Lebensgewohnheiten und den ausschwei¬ fenden Träumen ihrer Phantasie wiederfanden. Sie sahen sich darin, wie sie waren; elegant, geschwätzig, tapfer, raffinirt, verliebt, aber im Ganzen tugendhaft, und diese kleine Täuschung war nur ein Reiz mehr. Der Schauplatz ist in Assyrien, Persien, Aegypten oder Rom; aber es versteht sich von selbst, daß diese Perser, diese Assyrier, diese Römer Nichts von ihrem Lande haben, als den Namen. Vier Ei¬ genschaften waren wesentliche Erfordernisse eines Nomcmhelden; er mußte schön sein, Muth besitzen, Geist haben und von Stande sein. Häufig war es ein verkleideter Prinz; die Heldin war Königstoch¬ ter, Prinzessin, zum wenigsten eine vornehme Dame und schön wie der Tag. Das erste Mal sieht man sich im Tempel von Sinope, in den Gärten von Ekbatana, am Hofe von Babylon oder an den Ufern der Tiber. Wie heute noch ist der Held auf der Stelle sterb- ?5

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/27>, abgerufen am 23.07.2024.