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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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überliefert. Nein -- solche Gesetze gibt es nicht! Aber das Urtheil
der Welt stellt ihn an den Pranger, die gute Gesellschaft brandmarkt
ihn und wendet sich von ihm ab? O nein, auch das nicht! Er hat
viel Glück bei den Mädchen, sagt man, und eS sei ihm nicht zu ver¬
denken, daß er seine Jugend genieße. Selbst die nobeln Damen, die
den Goethe nicht lesen, weil er unmoralisch ist, flüstern sich zu von
seinen galanten Abenteuern und von dem hübschen blassen Kinde,
das er mitgebracht, und nennen ihn einen interessanten Mann. Er
bleibt in Amt und Würden, die keuschen Jungfrauen lechzen nach
seiner Huldigung, und die Mütter rechnen ihm geläufig die Talente
ihrer Tochter vor. Aber auf das schuldlos gefallene, durch Höllen¬
künste verführte Mädchen wird der Stein geworfen; stolz auf ihre
unverlockte Tugend wenden sich die lüsternen Pharisäerinnen von ihr
ab, und nicht einmal der helldenkendste Mann besitzt Entschlossenheit
genug, dem elenden Vorurtheil gegenüber zu treten. Mit kalter Lieb¬
losigkeit straft man sie, die durch heiße Liebe gesündigt hat. Der
Verführer bleibt ein Ehrenmann, aber die Verführte wird ehrlos. O,
man möchte dabei den Verstand verlieren, aber es geht nicht mehr,
denn ich glaube, unser ganzes Zeitalter ist vor Ueberfeincrung bereits
toll geworden.

Die kleine Gräfin kam lachend und singend die Treppe von der
Damenkajüte heraufgesprungen, umfaßte ihre "liebe Maria!" und
schmiegte sich dicht an sie. Ich habe nie eine rührendere Scene ge¬
sehen. Das holde Kind, dessen Seele makellos wie eine Lilie war,
blickte vertrauend und fromm zu Maria empor. Aber Maria senkte,
schmerzlich getroffen, das Antlitz zur Erde, ihre Lippen zuckten, und
die Wunde ihres Herzens blutete. Man sah das an den Wangen,
die plötzlich so purpurroth wurden; sie fühlte sich in diesem Moment
gewiß sehr schuldbelastet und unglücklich, doch glich sie den schönen
Sünderinnen auf guten alten Bildern vom Weltgericht, denen ein
Engel Vergebung bringt. Die kleine Gräfin war der Engel, und
sie war es nur, weil noch kein Flecken den Spiegel ihrer kindlichen
Unschuld trübte. Wäre sie älter gewesen und hätte schon eine Er¬
kenntniß des Bösen gehabt, sie würde sich "indignirt" abgewendet
haben, wie es die Andern thun.

Bald fand sich mehr Gesellschaft oben ein; das Wetter war
frisch und blau, und wir suchten der Zeit wieder Flügel zu leihen.


überliefert. Nein — solche Gesetze gibt es nicht! Aber das Urtheil
der Welt stellt ihn an den Pranger, die gute Gesellschaft brandmarkt
ihn und wendet sich von ihm ab? O nein, auch das nicht! Er hat
viel Glück bei den Mädchen, sagt man, und eS sei ihm nicht zu ver¬
denken, daß er seine Jugend genieße. Selbst die nobeln Damen, die
den Goethe nicht lesen, weil er unmoralisch ist, flüstern sich zu von
seinen galanten Abenteuern und von dem hübschen blassen Kinde,
das er mitgebracht, und nennen ihn einen interessanten Mann. Er
bleibt in Amt und Würden, die keuschen Jungfrauen lechzen nach
seiner Huldigung, und die Mütter rechnen ihm geläufig die Talente
ihrer Tochter vor. Aber auf das schuldlos gefallene, durch Höllen¬
künste verführte Mädchen wird der Stein geworfen; stolz auf ihre
unverlockte Tugend wenden sich die lüsternen Pharisäerinnen von ihr
ab, und nicht einmal der helldenkendste Mann besitzt Entschlossenheit
genug, dem elenden Vorurtheil gegenüber zu treten. Mit kalter Lieb¬
losigkeit straft man sie, die durch heiße Liebe gesündigt hat. Der
Verführer bleibt ein Ehrenmann, aber die Verführte wird ehrlos. O,
man möchte dabei den Verstand verlieren, aber es geht nicht mehr,
denn ich glaube, unser ganzes Zeitalter ist vor Ueberfeincrung bereits
toll geworden.

Die kleine Gräfin kam lachend und singend die Treppe von der
Damenkajüte heraufgesprungen, umfaßte ihre „liebe Maria!" und
schmiegte sich dicht an sie. Ich habe nie eine rührendere Scene ge¬
sehen. Das holde Kind, dessen Seele makellos wie eine Lilie war,
blickte vertrauend und fromm zu Maria empor. Aber Maria senkte,
schmerzlich getroffen, das Antlitz zur Erde, ihre Lippen zuckten, und
die Wunde ihres Herzens blutete. Man sah das an den Wangen,
die plötzlich so purpurroth wurden; sie fühlte sich in diesem Moment
gewiß sehr schuldbelastet und unglücklich, doch glich sie den schönen
Sünderinnen auf guten alten Bildern vom Weltgericht, denen ein
Engel Vergebung bringt. Die kleine Gräfin war der Engel, und
sie war es nur, weil noch kein Flecken den Spiegel ihrer kindlichen
Unschuld trübte. Wäre sie älter gewesen und hätte schon eine Er¬
kenntniß des Bösen gehabt, sie würde sich „indignirt" abgewendet
haben, wie es die Andern thun.

Bald fand sich mehr Gesellschaft oben ein; das Wetter war
frisch und blau, und wir suchten der Zeit wieder Flügel zu leihen.


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[0181] überliefert. Nein — solche Gesetze gibt es nicht! Aber das Urtheil der Welt stellt ihn an den Pranger, die gute Gesellschaft brandmarkt ihn und wendet sich von ihm ab? O nein, auch das nicht! Er hat viel Glück bei den Mädchen, sagt man, und eS sei ihm nicht zu ver¬ denken, daß er seine Jugend genieße. Selbst die nobeln Damen, die den Goethe nicht lesen, weil er unmoralisch ist, flüstern sich zu von seinen galanten Abenteuern und von dem hübschen blassen Kinde, das er mitgebracht, und nennen ihn einen interessanten Mann. Er bleibt in Amt und Würden, die keuschen Jungfrauen lechzen nach seiner Huldigung, und die Mütter rechnen ihm geläufig die Talente ihrer Tochter vor. Aber auf das schuldlos gefallene, durch Höllen¬ künste verführte Mädchen wird der Stein geworfen; stolz auf ihre unverlockte Tugend wenden sich die lüsternen Pharisäerinnen von ihr ab, und nicht einmal der helldenkendste Mann besitzt Entschlossenheit genug, dem elenden Vorurtheil gegenüber zu treten. Mit kalter Lieb¬ losigkeit straft man sie, die durch heiße Liebe gesündigt hat. Der Verführer bleibt ein Ehrenmann, aber die Verführte wird ehrlos. O, man möchte dabei den Verstand verlieren, aber es geht nicht mehr, denn ich glaube, unser ganzes Zeitalter ist vor Ueberfeincrung bereits toll geworden. Die kleine Gräfin kam lachend und singend die Treppe von der Damenkajüte heraufgesprungen, umfaßte ihre „liebe Maria!" und schmiegte sich dicht an sie. Ich habe nie eine rührendere Scene ge¬ sehen. Das holde Kind, dessen Seele makellos wie eine Lilie war, blickte vertrauend und fromm zu Maria empor. Aber Maria senkte, schmerzlich getroffen, das Antlitz zur Erde, ihre Lippen zuckten, und die Wunde ihres Herzens blutete. Man sah das an den Wangen, die plötzlich so purpurroth wurden; sie fühlte sich in diesem Moment gewiß sehr schuldbelastet und unglücklich, doch glich sie den schönen Sünderinnen auf guten alten Bildern vom Weltgericht, denen ein Engel Vergebung bringt. Die kleine Gräfin war der Engel, und sie war es nur, weil noch kein Flecken den Spiegel ihrer kindlichen Unschuld trübte. Wäre sie älter gewesen und hätte schon eine Er¬ kenntniß des Bösen gehabt, sie würde sich „indignirt" abgewendet haben, wie es die Andern thun. Bald fand sich mehr Gesellschaft oben ein; das Wetter war frisch und blau, und wir suchten der Zeit wieder Flügel zu leihen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/181>, abgerufen am 23.12.2024.