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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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gerd" der Tagesgeschichte nach jedem Gesinnungstrompetentusch durch
>eine factische Gegendemonstration verleidet. Nicht in denen aber, die
mit Fingern darauf weisen, liegt der Hohn, liegt die Bitterkeit, son¬
dern in den Thatsachen selbst. Wer wollte es läugnen, daß der Kö¬
nig von Preußen persönlich erfüllt ist von ritterlichem Sinn und
Streben ? GelingtHm es aber, diesen Geist auch der preußischen Wirk¬
lichkeit einzuhauchen, oder siegt nicht vielmehr, wo es zum Thun
und Lassen kommt, der unausrottbare incarnirte bureaukratisch poli¬
zeiliche Charakter? Kaum ist das Cartel zwischen Preußen und Ru߬
land wieder hergestellt und sogleich wird ein Exempel statuirt, an dem
man vorausschmeckcn kann, welche Früchte die entonto corcki-no zwischen
der russischen und borussischen Macht in Zukunft tragen wird. Graf
Gurowsky, -- den wir keineswegs als politische Capacität feiern wol¬
len, der aber jedenfalls bei allen extremen Meinungswcchseln ein un¬
schädlicher Flüchtling ist -- hielt sich bekanntlich seit seiner Flucht aus
Russisch-Polen in Schlesien auf, wo er in Zurückgezogenheit die todt¬
kranke, jetzt gestorbene Mutter pflegte. Plötzlich erhält er den streng¬
sten Befehl, sofort und auf einer Awangsroute die preußischen Staaten
zu verlassen. Sollte Nicolaus, der in London das exilirte Polen aus
eigener Tasche unterstützen wollte, jetzt, wo er wieder in seinem sichern
Petersburg thront, diesen einen gebrochenen, gehetzten Mannso sehr fürch¬
ten, daß er Preußen drängt, dem eben abgeschlossenen Cartel eine halb
rückwirkende Kraft zu geben? Oder sieht man in Berlin dem hohen
Meinherrscher seine Wünsche an den Augen ab? Wir können darüber
nicht urtheilen. Aber fragen darf man wohl, wie sich dies Benehmen gegen
einen harmlosen Flüchtling verglichen mit dem neulichen Betragen der
englischen Aristokratie gegen eine ganze Colonie von Flüchtlingen aus¬
nimmt? Man weis't uns ja immer auf England hin, auf das bluts-
und geistesverwandte Britenvolk. Ist diese polizeiliche Liebenswürdig¬
keit ritterlich, oder will Preußen damit vor dem Auslande, wohin es
Gurowsky mit seinen Klagen stößt, das echt germanische Element, die
Gastlichkeit und die Großmuth der deutschen Nation repräsentiren?
Wir wissen sehr wohl, und wir hoffen, daß auf die erste Nachricht
von Gurowsky's Ausweisung allerhand Berichtigungen folgen werden.
Es kann aber nicht schaden, wenn die Presse diese erste Nachricht nach
ihrem dürren Wortlaut beleuchtet. Denn häusig sind die offiziellen
Berichtigungen, wenn sie auch die erste Mittheilung einer Unrichtig¬
keit zeihen wollen, nur eine Andeutung, daß die besprochene Maßregel
nachträglich modificirt und gemildert wurde.




Verlag von Fr. Ludw. Herbig. -- Redacteur I. Kuranda.
Druck von Friedrich Andrü.

gerd" der Tagesgeschichte nach jedem Gesinnungstrompetentusch durch
>eine factische Gegendemonstration verleidet. Nicht in denen aber, die
mit Fingern darauf weisen, liegt der Hohn, liegt die Bitterkeit, son¬
dern in den Thatsachen selbst. Wer wollte es läugnen, daß der Kö¬
nig von Preußen persönlich erfüllt ist von ritterlichem Sinn und
Streben ? GelingtHm es aber, diesen Geist auch der preußischen Wirk¬
lichkeit einzuhauchen, oder siegt nicht vielmehr, wo es zum Thun
und Lassen kommt, der unausrottbare incarnirte bureaukratisch poli¬
zeiliche Charakter? Kaum ist das Cartel zwischen Preußen und Ru߬
land wieder hergestellt und sogleich wird ein Exempel statuirt, an dem
man vorausschmeckcn kann, welche Früchte die entonto corcki-no zwischen
der russischen und borussischen Macht in Zukunft tragen wird. Graf
Gurowsky, — den wir keineswegs als politische Capacität feiern wol¬
len, der aber jedenfalls bei allen extremen Meinungswcchseln ein un¬
schädlicher Flüchtling ist — hielt sich bekanntlich seit seiner Flucht aus
Russisch-Polen in Schlesien auf, wo er in Zurückgezogenheit die todt¬
kranke, jetzt gestorbene Mutter pflegte. Plötzlich erhält er den streng¬
sten Befehl, sofort und auf einer Awangsroute die preußischen Staaten
zu verlassen. Sollte Nicolaus, der in London das exilirte Polen aus
eigener Tasche unterstützen wollte, jetzt, wo er wieder in seinem sichern
Petersburg thront, diesen einen gebrochenen, gehetzten Mannso sehr fürch¬
ten, daß er Preußen drängt, dem eben abgeschlossenen Cartel eine halb
rückwirkende Kraft zu geben? Oder sieht man in Berlin dem hohen
Meinherrscher seine Wünsche an den Augen ab? Wir können darüber
nicht urtheilen. Aber fragen darf man wohl, wie sich dies Benehmen gegen
einen harmlosen Flüchtling verglichen mit dem neulichen Betragen der
englischen Aristokratie gegen eine ganze Colonie von Flüchtlingen aus¬
nimmt? Man weis't uns ja immer auf England hin, auf das bluts-
und geistesverwandte Britenvolk. Ist diese polizeiliche Liebenswürdig¬
keit ritterlich, oder will Preußen damit vor dem Auslande, wohin es
Gurowsky mit seinen Klagen stößt, das echt germanische Element, die
Gastlichkeit und die Großmuth der deutschen Nation repräsentiren?
Wir wissen sehr wohl, und wir hoffen, daß auf die erste Nachricht
von Gurowsky's Ausweisung allerhand Berichtigungen folgen werden.
Es kann aber nicht schaden, wenn die Presse diese erste Nachricht nach
ihrem dürren Wortlaut beleuchtet. Denn häusig sind die offiziellen
Berichtigungen, wenn sie auch die erste Mittheilung einer Unrichtig¬
keit zeihen wollen, nur eine Andeutung, daß die besprochene Maßregel
nachträglich modificirt und gemildert wurde.




Verlag von Fr. Ludw. Herbig. — Redacteur I. Kuranda.
Druck von Friedrich Andrü.
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[0104] gerd" der Tagesgeschichte nach jedem Gesinnungstrompetentusch durch >eine factische Gegendemonstration verleidet. Nicht in denen aber, die mit Fingern darauf weisen, liegt der Hohn, liegt die Bitterkeit, son¬ dern in den Thatsachen selbst. Wer wollte es läugnen, daß der Kö¬ nig von Preußen persönlich erfüllt ist von ritterlichem Sinn und Streben ? GelingtHm es aber, diesen Geist auch der preußischen Wirk¬ lichkeit einzuhauchen, oder siegt nicht vielmehr, wo es zum Thun und Lassen kommt, der unausrottbare incarnirte bureaukratisch poli¬ zeiliche Charakter? Kaum ist das Cartel zwischen Preußen und Ru߬ land wieder hergestellt und sogleich wird ein Exempel statuirt, an dem man vorausschmeckcn kann, welche Früchte die entonto corcki-no zwischen der russischen und borussischen Macht in Zukunft tragen wird. Graf Gurowsky, — den wir keineswegs als politische Capacität feiern wol¬ len, der aber jedenfalls bei allen extremen Meinungswcchseln ein un¬ schädlicher Flüchtling ist — hielt sich bekanntlich seit seiner Flucht aus Russisch-Polen in Schlesien auf, wo er in Zurückgezogenheit die todt¬ kranke, jetzt gestorbene Mutter pflegte. Plötzlich erhält er den streng¬ sten Befehl, sofort und auf einer Awangsroute die preußischen Staaten zu verlassen. Sollte Nicolaus, der in London das exilirte Polen aus eigener Tasche unterstützen wollte, jetzt, wo er wieder in seinem sichern Petersburg thront, diesen einen gebrochenen, gehetzten Mannso sehr fürch¬ ten, daß er Preußen drängt, dem eben abgeschlossenen Cartel eine halb rückwirkende Kraft zu geben? Oder sieht man in Berlin dem hohen Meinherrscher seine Wünsche an den Augen ab? Wir können darüber nicht urtheilen. Aber fragen darf man wohl, wie sich dies Benehmen gegen einen harmlosen Flüchtling verglichen mit dem neulichen Betragen der englischen Aristokratie gegen eine ganze Colonie von Flüchtlingen aus¬ nimmt? Man weis't uns ja immer auf England hin, auf das bluts- und geistesverwandte Britenvolk. Ist diese polizeiliche Liebenswürdig¬ keit ritterlich, oder will Preußen damit vor dem Auslande, wohin es Gurowsky mit seinen Klagen stößt, das echt germanische Element, die Gastlichkeit und die Großmuth der deutschen Nation repräsentiren? Wir wissen sehr wohl, und wir hoffen, daß auf die erste Nachricht von Gurowsky's Ausweisung allerhand Berichtigungen folgen werden. Es kann aber nicht schaden, wenn die Presse diese erste Nachricht nach ihrem dürren Wortlaut beleuchtet. Denn häusig sind die offiziellen Berichtigungen, wenn sie auch die erste Mittheilung einer Unrichtig¬ keit zeihen wollen, nur eine Andeutung, daß die besprochene Maßregel nachträglich modificirt und gemildert wurde. Verlag von Fr. Ludw. Herbig. — Redacteur I. Kuranda. Druck von Friedrich Andrü.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/104>, abgerufen am 23.12.2024.