Was die Entartung der untersten Klassen in Berlin so schnell entwickelt, ist nicht der Mangel an geistlicher Erbauung, sondern der Mangel an weltlicher Unterhaltung sittlicher Art, nicht der Mangel an Kirchen mit zierlichen Schinkel'schen Säulen, sondern vor Allem der Mangel jener großen, erhabenen Kirche, die man grüne Na¬ tur nennt. Ein Wald, ein Berg, buschige Hügel, duftige Wiesen, blühende Felder, vom Duft des Frühlings belebt, erheben und ver¬ sittlichen selbst den rohesten Menschen. Alle jene heftigen Emotionen, mit welchen die Erhabenheit der frischen Natur auch das stumpfeste Herz aufrüttelt, jene süßen FrühlingSschauer, jene wahren innerlichen Ostertage, wo mit dem Leibe auch die Seele ihre Auferstehung feiert, jene ahnungsreicher Sommerabende in duftgeschwängerter Lust, so reich an Tröstung und wohlthätiger Seelenerschütterung, die kennt der gemeine Mann in Berlin nicht. Der Reiche sucht sie auf durch Reisen, oder auf seinem Landgute, für den Armen geht Jahr für Jahr vorüber, ohne in sein Herz eine Blume zu pflanzen, ohne jene wohl¬ thätige Gährung in seiner Seele zu erregen, die der Frühling jedem Andern bringt. Nur das Bockbier bezeichnet ihm die Ankunft des Lenzes, der wohlfeilere Schnapspreis das Nahen des Herbstes; -- seine Sonntagsspaziergänge muß er in der Branntweinkneipe und im Bicrkellcr machen. So entzündet sich Rohheit an Rohheit und erbt sich sort in steigendem Maße. Das ist das Geheimniß der unver- hältnißmäßigen Entartung der niederen Stände Berlins -- nicht blos des Pöbels.
Ich fragte einen meiner Bekannten, den Stadtrath Jottrand in Brüssel, als er vor Kurzem von einem Ausfluge in die Rheingegen¬ den zurückkam, wie es ihm in Preußen gefallen habe. -- Vieles ist vortrefflich,--antwortete er--Manches bewundemöwerth, aber fast Alles geschieht für den höheren und für den Mittelstand; das Volk ist ein Stief¬ kind in diesem Lande, es wird überall mit Grobheit behandelt, für seine Bequemlichkeit wird nicht die mindeste Sorge verwendet. Der Handelsstand, der Beamtenstand, der Gelehrtenstand sind mächtig und emancipirt -- der gemeine Mann ist ein Paria.
Die Wahrheit dieses Urtheils braucht man nicht erst auf dem Lande, in den Provinzen zu suchen, man hat sie schon in der Haupt¬ stadt unter den Augen der Centralregierung vor sich. Berlin ist eine prächtige Stadt mit wunderbaren Bauten, kostbaren Kunstsamm
Was die Entartung der untersten Klassen in Berlin so schnell entwickelt, ist nicht der Mangel an geistlicher Erbauung, sondern der Mangel an weltlicher Unterhaltung sittlicher Art, nicht der Mangel an Kirchen mit zierlichen Schinkel'schen Säulen, sondern vor Allem der Mangel jener großen, erhabenen Kirche, die man grüne Na¬ tur nennt. Ein Wald, ein Berg, buschige Hügel, duftige Wiesen, blühende Felder, vom Duft des Frühlings belebt, erheben und ver¬ sittlichen selbst den rohesten Menschen. Alle jene heftigen Emotionen, mit welchen die Erhabenheit der frischen Natur auch das stumpfeste Herz aufrüttelt, jene süßen FrühlingSschauer, jene wahren innerlichen Ostertage, wo mit dem Leibe auch die Seele ihre Auferstehung feiert, jene ahnungsreicher Sommerabende in duftgeschwängerter Lust, so reich an Tröstung und wohlthätiger Seelenerschütterung, die kennt der gemeine Mann in Berlin nicht. Der Reiche sucht sie auf durch Reisen, oder auf seinem Landgute, für den Armen geht Jahr für Jahr vorüber, ohne in sein Herz eine Blume zu pflanzen, ohne jene wohl¬ thätige Gährung in seiner Seele zu erregen, die der Frühling jedem Andern bringt. Nur das Bockbier bezeichnet ihm die Ankunft des Lenzes, der wohlfeilere Schnapspreis das Nahen des Herbstes; — seine Sonntagsspaziergänge muß er in der Branntweinkneipe und im Bicrkellcr machen. So entzündet sich Rohheit an Rohheit und erbt sich sort in steigendem Maße. Das ist das Geheimniß der unver- hältnißmäßigen Entartung der niederen Stände Berlins — nicht blos des Pöbels.
Ich fragte einen meiner Bekannten, den Stadtrath Jottrand in Brüssel, als er vor Kurzem von einem Ausfluge in die Rheingegen¬ den zurückkam, wie es ihm in Preußen gefallen habe. — Vieles ist vortrefflich,—antwortete er—Manches bewundemöwerth, aber fast Alles geschieht für den höheren und für den Mittelstand; das Volk ist ein Stief¬ kind in diesem Lande, es wird überall mit Grobheit behandelt, für seine Bequemlichkeit wird nicht die mindeste Sorge verwendet. Der Handelsstand, der Beamtenstand, der Gelehrtenstand sind mächtig und emancipirt — der gemeine Mann ist ein Paria.
Die Wahrheit dieses Urtheils braucht man nicht erst auf dem Lande, in den Provinzen zu suchen, man hat sie schon in der Haupt¬ stadt unter den Augen der Centralregierung vor sich. Berlin ist eine prächtige Stadt mit wunderbaren Bauten, kostbaren Kunstsamm
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Was die Entartung der untersten Klassen in Berlin so schnell
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Mangel an weltlicher Unterhaltung sittlicher Art, nicht der Mangel
an Kirchen mit zierlichen Schinkel'schen Säulen, sondern vor Allem
der Mangel jener großen, erhabenen Kirche, die man grüne Na¬
tur nennt. Ein Wald, ein Berg, buschige Hügel, duftige Wiesen,
blühende Felder, vom Duft des Frühlings belebt, erheben und ver¬
sittlichen selbst den rohesten Menschen. Alle jene heftigen Emotionen,
mit welchen die Erhabenheit der frischen Natur auch das stumpfeste
Herz aufrüttelt, jene süßen FrühlingSschauer, jene wahren innerlichen
Ostertage, wo mit dem Leibe auch die Seele ihre Auferstehung feiert,
jene ahnungsreicher Sommerabende in duftgeschwängerter Lust, so
reich an Tröstung und wohlthätiger Seelenerschütterung, die kennt
der gemeine Mann in Berlin nicht. Der Reiche sucht sie auf durch
Reisen, oder auf seinem Landgute, für den Armen geht Jahr für Jahr
vorüber, ohne in sein Herz eine Blume zu pflanzen, ohne jene wohl¬
thätige Gährung in seiner Seele zu erregen, die der Frühling jedem
Andern bringt. Nur das Bockbier bezeichnet ihm die Ankunft des
Lenzes, der wohlfeilere Schnapspreis das Nahen des Herbstes; —
seine Sonntagsspaziergänge muß er in der Branntweinkneipe und im
Bicrkellcr machen. So entzündet sich Rohheit an Rohheit und erbt
sich sort in steigendem Maße. Das ist das Geheimniß der unver-
hältnißmäßigen Entartung der niederen Stände Berlins — nicht blos
des Pöbels.
Ich fragte einen meiner Bekannten, den Stadtrath Jottrand in
Brüssel, als er vor Kurzem von einem Ausfluge in die Rheingegen¬
den zurückkam, wie es ihm in Preußen gefallen habe. — Vieles ist
vortrefflich,—antwortete er—Manches bewundemöwerth, aber fast Alles
geschieht für den höheren und für den Mittelstand; das Volk ist ein Stief¬
kind in diesem Lande, es wird überall mit Grobheit behandelt, für
seine Bequemlichkeit wird nicht die mindeste Sorge verwendet. Der
Handelsstand, der Beamtenstand, der Gelehrtenstand sind mächtig und
emancipirt — der gemeine Mann ist ein Paria.
Die Wahrheit dieses Urtheils braucht man nicht erst auf dem
Lande, in den Provinzen zu suchen, man hat sie schon in der Haupt¬
stadt unter den Augen der Centralregierung vor sich. Berlin ist eine
prächtige Stadt mit wunderbaren Bauten, kostbaren Kunstsamm
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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/710>, abgerufen am 23.12.2024.
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