spielte Schach mit dem Tode und ließ die Kirche warten, bis er sich überzeugt hatte, daß ihm kein Zug mehr übrig blieb. Er schloß das letzte Geschäft vorsichtig ab; man muß gestehen, daß in diesem Be¬ nehmen Muth und Würde war. Talleyrand's angeborener Scharf¬ blick, der ihn den Leitfaden finden ließ in den Kern der verschlossen¬ sten Charaktere wie der verwickeltsten Zustände, war von der reich¬ haltigsten Erfahrung ausgebildet und geübt worden, denn er war als Staatsmann thätig gewesen unter fast allen Regierungsformen. So hatte sich dieses merkwürdige Situirungstalent entwickelt, das haarscharf unterschied zwischen Schein und Sein, jedes Verhältniß, wie sehr auch seine Elemente sich vermengt hatten, chemisch zersetzte und in dem Calcul ihres ferneren Zusammenstehens, so wie einer bevorstehenden Ausscheidung, fast einer Sehergabe gleich kam. Er hatte sich nur selten geirrt, weil er nie darauf ausging, sich selbst zu täuschen, und er täuschte auch nur in so fern Andere, daß er, mehr aus Indolenz, als in trügerischer Absicht, ihnen den Schlüssel seines Verständnisses nicht gab, sondern ihnen überließ, ihn selbst zu finden. Er hatte, zählte man,.dreizehn große feierliche Eide gebrochen,'aber er hatte sich nicht verpflichtet halten können, still zu stehen, wenn Alles um ihn her sich bewegte, und er konnte die Treue nicht be¬ greifen, die aus dem Beharren bei einer Unmöglichkeit eine Tugend machte. Er brachte dem Wiener Congreß das Princip der Legitimi¬ tät, weil ihm nichts Anderes geblieben war, denn das Frankreich, das er vertreten sollte, hatte damals keine Soldaten und keine poli¬ tische Macht, und da er nicht mit leeren Händen kommen konnte, so rief er den Diplomaten zu: vous i^norto um s>rincir>v und warf das in die Waagschale, wie Alexander sein Schwert. Er hatte al¬ lerdings das göttliche Recht angerufen, aber in der Zuversicht, daß man es menschlich möglich machen würde, und als man das nicht mehr wollte, und er nicht auswandern wollte mit denen, die sein Princip verkehrt angewendet hatten, so mußte er darin eine Incon- sequenz erblicken, der verkehrten Anwendung treu bleiben zu sollen. Talleyrand hat im Grunde Niemand verrathen, der sich nicht schon selbst verrathen hatte, und er hat immer richtigen Rath ertheilt, wenn man ihn verstehen und nützen wollte; ja er hat sogar still¬ schweigend gewarnt, indem er sich zurückzog lind auf die kommende Katastrophe hinwies. Aber das ist nicht zu läugnen, so klar, denk-
spielte Schach mit dem Tode und ließ die Kirche warten, bis er sich überzeugt hatte, daß ihm kein Zug mehr übrig blieb. Er schloß das letzte Geschäft vorsichtig ab; man muß gestehen, daß in diesem Be¬ nehmen Muth und Würde war. Talleyrand's angeborener Scharf¬ blick, der ihn den Leitfaden finden ließ in den Kern der verschlossen¬ sten Charaktere wie der verwickeltsten Zustände, war von der reich¬ haltigsten Erfahrung ausgebildet und geübt worden, denn er war als Staatsmann thätig gewesen unter fast allen Regierungsformen. So hatte sich dieses merkwürdige Situirungstalent entwickelt, das haarscharf unterschied zwischen Schein und Sein, jedes Verhältniß, wie sehr auch seine Elemente sich vermengt hatten, chemisch zersetzte und in dem Calcul ihres ferneren Zusammenstehens, so wie einer bevorstehenden Ausscheidung, fast einer Sehergabe gleich kam. Er hatte sich nur selten geirrt, weil er nie darauf ausging, sich selbst zu täuschen, und er täuschte auch nur in so fern Andere, daß er, mehr aus Indolenz, als in trügerischer Absicht, ihnen den Schlüssel seines Verständnisses nicht gab, sondern ihnen überließ, ihn selbst zu finden. Er hatte, zählte man,.dreizehn große feierliche Eide gebrochen,'aber er hatte sich nicht verpflichtet halten können, still zu stehen, wenn Alles um ihn her sich bewegte, und er konnte die Treue nicht be¬ greifen, die aus dem Beharren bei einer Unmöglichkeit eine Tugend machte. Er brachte dem Wiener Congreß das Princip der Legitimi¬ tät, weil ihm nichts Anderes geblieben war, denn das Frankreich, das er vertreten sollte, hatte damals keine Soldaten und keine poli¬ tische Macht, und da er nicht mit leeren Händen kommen konnte, so rief er den Diplomaten zu: vous i^norto um s>rincir>v und warf das in die Waagschale, wie Alexander sein Schwert. Er hatte al¬ lerdings das göttliche Recht angerufen, aber in der Zuversicht, daß man es menschlich möglich machen würde, und als man das nicht mehr wollte, und er nicht auswandern wollte mit denen, die sein Princip verkehrt angewendet hatten, so mußte er darin eine Incon- sequenz erblicken, der verkehrten Anwendung treu bleiben zu sollen. Talleyrand hat im Grunde Niemand verrathen, der sich nicht schon selbst verrathen hatte, und er hat immer richtigen Rath ertheilt, wenn man ihn verstehen und nützen wollte; ja er hat sogar still¬ schweigend gewarnt, indem er sich zurückzog lind auf die kommende Katastrophe hinwies. Aber das ist nicht zu läugnen, so klar, denk-
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spielte Schach mit dem Tode und ließ die Kirche warten, bis er sich
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nehmen Muth und Würde war. Talleyrand's angeborener Scharf¬
blick, der ihn den Leitfaden finden ließ in den Kern der verschlossen¬
sten Charaktere wie der verwickeltsten Zustände, war von der reich¬
haltigsten Erfahrung ausgebildet und geübt worden, denn er war
als Staatsmann thätig gewesen unter fast allen Regierungsformen.
So hatte sich dieses merkwürdige Situirungstalent entwickelt, das
haarscharf unterschied zwischen Schein und Sein, jedes Verhältniß,
wie sehr auch seine Elemente sich vermengt hatten, chemisch zersetzte
und in dem Calcul ihres ferneren Zusammenstehens, so wie einer
bevorstehenden Ausscheidung, fast einer Sehergabe gleich kam. Er
hatte sich nur selten geirrt, weil er nie darauf ausging, sich selbst zu
täuschen, und er täuschte auch nur in so fern Andere, daß er, mehr
aus Indolenz, als in trügerischer Absicht, ihnen den Schlüssel seines
Verständnisses nicht gab, sondern ihnen überließ, ihn selbst zu finden.
Er hatte, zählte man,.dreizehn große feierliche Eide gebrochen,'aber
er hatte sich nicht verpflichtet halten können, still zu stehen, wenn
Alles um ihn her sich bewegte, und er konnte die Treue nicht be¬
greifen, die aus dem Beharren bei einer Unmöglichkeit eine Tugend
machte. Er brachte dem Wiener Congreß das Princip der Legitimi¬
tät, weil ihm nichts Anderes geblieben war, denn das Frankreich,
das er vertreten sollte, hatte damals keine Soldaten und keine poli¬
tische Macht, und da er nicht mit leeren Händen kommen konnte, so
rief er den Diplomaten zu: vous i^norto um s>rincir>v und warf
das in die Waagschale, wie Alexander sein Schwert. Er hatte al¬
lerdings das göttliche Recht angerufen, aber in der Zuversicht, daß
man es menschlich möglich machen würde, und als man das nicht
mehr wollte, und er nicht auswandern wollte mit denen, die sein
Princip verkehrt angewendet hatten, so mußte er darin eine Incon-
sequenz erblicken, der verkehrten Anwendung treu bleiben zu sollen.
Talleyrand hat im Grunde Niemand verrathen, der sich nicht schon
selbst verrathen hatte, und er hat immer richtigen Rath ertheilt,
wenn man ihn verstehen und nützen wollte; ja er hat sogar still¬
schweigend gewarnt, indem er sich zurückzog lind auf die kommende
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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/688>, abgerufen am 23.12.2024.
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