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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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lektuelle Regsamkeit, der ganze Zuschnitt noch zu sehr nach veralteten
Ansichten, nach überflüssig gewordenen Bedürfnissen; die Frauen uno
Töchter aus mancherlei Ursachen, oft nur aus Gewohnheit zu pro¬
saisch gestimmt, das gesellige Leben zu selten, zu unzugänglich, zu steif
und todt; so flüchtet denn der geniale Trieb, dem nirgends Anlehnung,
dem nirgends Aufmunterung wird, dahin, wo er Sympathie und
Nahrung findet, schüttelt die hemmende Prosa ab und beraubt sich
und die Gesellschaft des höheren Genusses, der Beiden im harmoni¬
scheren Austausch geworden wäre. Aber wenn wir die Jugend, die doch
noch ein hohes Interesse sür einander, wie überhaupt offnen Sinn
fürs Leben hat, wenn selbst diese hier nur unbefriedigt sich gegenüber
steht, was ist da für ältere Personen zu erwarten?

Blicken wir einmal recht tief in die Prosa des geselligen Ver¬
kehrs, oder doch in die seltsame Auffassung desselben. Wenn eine
noch junge Frau, wenn auch halb scherzweise, sagen kann: "Geht ihr
Mädchen in Gottes Namen in Gesellschaft, ich habe meinen Mann!"
wenn der noch junge und lebensfrohe Mann sagt: "Was soll ich
da und dort thun, ich bin ja verheirathet," dann freilich, wenn das
Freien, oder höchstens Kurmachen der Zweck und Ausgang alles
geselligen Verkehrs beider Geschlechter ist, dann gibt es für Verhei-
rathete, für Aeltere schicklicherweise gar keinen solchen. Und es ist
wirklich so, wo Liebe und Eitelkeit keine Nahrung sucht, gibt es hier
nur inhaltlose Erscheinungen.

Aber die Liebe hat aufgehört, allein berechtigtes Element zu
sein, die Thätigkeit der Seele erstreckt sich auch auf andere Gebiete.
Wie wir sie in keinem Roman mehr allein herrschend finden, ja wie
mit aus diesem Grund der Roman selbst immer mehr verdrängt wird,
wie im Drama andere Ziel- und Ausgangspunkte hervortreten, so
im ganzen Leben; und hier zeigt uns die Dichtung nur, was sich in
der Wirklichkeit längst ohne unser Wissen vorbereitet, ohne daß der
Liebe, auch im engeren Sinne, ein erster Rang, das Ansehen des be¬
lebendsten Prinzips entzogen ist, wenn ihr das Äbsorbiren aller Bewe¬
gungen nach einer Seite des Lebens hin geraubt, und der Seele
ein universelleres Streben eingeräumt wird.

Wollten wir doch in Bezug auf gesellige Vereinigung anfangen,
von allen Seiten Concessionen zu machen; wollte doch der Mann


lektuelle Regsamkeit, der ganze Zuschnitt noch zu sehr nach veralteten
Ansichten, nach überflüssig gewordenen Bedürfnissen; die Frauen uno
Töchter aus mancherlei Ursachen, oft nur aus Gewohnheit zu pro¬
saisch gestimmt, das gesellige Leben zu selten, zu unzugänglich, zu steif
und todt; so flüchtet denn der geniale Trieb, dem nirgends Anlehnung,
dem nirgends Aufmunterung wird, dahin, wo er Sympathie und
Nahrung findet, schüttelt die hemmende Prosa ab und beraubt sich
und die Gesellschaft des höheren Genusses, der Beiden im harmoni¬
scheren Austausch geworden wäre. Aber wenn wir die Jugend, die doch
noch ein hohes Interesse sür einander, wie überhaupt offnen Sinn
fürs Leben hat, wenn selbst diese hier nur unbefriedigt sich gegenüber
steht, was ist da für ältere Personen zu erwarten?

Blicken wir einmal recht tief in die Prosa des geselligen Ver¬
kehrs, oder doch in die seltsame Auffassung desselben. Wenn eine
noch junge Frau, wenn auch halb scherzweise, sagen kann: „Geht ihr
Mädchen in Gottes Namen in Gesellschaft, ich habe meinen Mann!"
wenn der noch junge und lebensfrohe Mann sagt: „Was soll ich
da und dort thun, ich bin ja verheirathet," dann freilich, wenn das
Freien, oder höchstens Kurmachen der Zweck und Ausgang alles
geselligen Verkehrs beider Geschlechter ist, dann gibt es für Verhei-
rathete, für Aeltere schicklicherweise gar keinen solchen. Und es ist
wirklich so, wo Liebe und Eitelkeit keine Nahrung sucht, gibt es hier
nur inhaltlose Erscheinungen.

Aber die Liebe hat aufgehört, allein berechtigtes Element zu
sein, die Thätigkeit der Seele erstreckt sich auch auf andere Gebiete.
Wie wir sie in keinem Roman mehr allein herrschend finden, ja wie
mit aus diesem Grund der Roman selbst immer mehr verdrängt wird,
wie im Drama andere Ziel- und Ausgangspunkte hervortreten, so
im ganzen Leben; und hier zeigt uns die Dichtung nur, was sich in
der Wirklichkeit längst ohne unser Wissen vorbereitet, ohne daß der
Liebe, auch im engeren Sinne, ein erster Rang, das Ansehen des be¬
lebendsten Prinzips entzogen ist, wenn ihr das Äbsorbiren aller Bewe¬
gungen nach einer Seite des Lebens hin geraubt, und der Seele
ein universelleres Streben eingeräumt wird.

Wollten wir doch in Bezug auf gesellige Vereinigung anfangen,
von allen Seiten Concessionen zu machen; wollte doch der Mann


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[0618] lektuelle Regsamkeit, der ganze Zuschnitt noch zu sehr nach veralteten Ansichten, nach überflüssig gewordenen Bedürfnissen; die Frauen uno Töchter aus mancherlei Ursachen, oft nur aus Gewohnheit zu pro¬ saisch gestimmt, das gesellige Leben zu selten, zu unzugänglich, zu steif und todt; so flüchtet denn der geniale Trieb, dem nirgends Anlehnung, dem nirgends Aufmunterung wird, dahin, wo er Sympathie und Nahrung findet, schüttelt die hemmende Prosa ab und beraubt sich und die Gesellschaft des höheren Genusses, der Beiden im harmoni¬ scheren Austausch geworden wäre. Aber wenn wir die Jugend, die doch noch ein hohes Interesse sür einander, wie überhaupt offnen Sinn fürs Leben hat, wenn selbst diese hier nur unbefriedigt sich gegenüber steht, was ist da für ältere Personen zu erwarten? Blicken wir einmal recht tief in die Prosa des geselligen Ver¬ kehrs, oder doch in die seltsame Auffassung desselben. Wenn eine noch junge Frau, wenn auch halb scherzweise, sagen kann: „Geht ihr Mädchen in Gottes Namen in Gesellschaft, ich habe meinen Mann!" wenn der noch junge und lebensfrohe Mann sagt: „Was soll ich da und dort thun, ich bin ja verheirathet," dann freilich, wenn das Freien, oder höchstens Kurmachen der Zweck und Ausgang alles geselligen Verkehrs beider Geschlechter ist, dann gibt es für Verhei- rathete, für Aeltere schicklicherweise gar keinen solchen. Und es ist wirklich so, wo Liebe und Eitelkeit keine Nahrung sucht, gibt es hier nur inhaltlose Erscheinungen. Aber die Liebe hat aufgehört, allein berechtigtes Element zu sein, die Thätigkeit der Seele erstreckt sich auch auf andere Gebiete. Wie wir sie in keinem Roman mehr allein herrschend finden, ja wie mit aus diesem Grund der Roman selbst immer mehr verdrängt wird, wie im Drama andere Ziel- und Ausgangspunkte hervortreten, so im ganzen Leben; und hier zeigt uns die Dichtung nur, was sich in der Wirklichkeit längst ohne unser Wissen vorbereitet, ohne daß der Liebe, auch im engeren Sinne, ein erster Rang, das Ansehen des be¬ lebendsten Prinzips entzogen ist, wenn ihr das Äbsorbiren aller Bewe¬ gungen nach einer Seite des Lebens hin geraubt, und der Seele ein universelleres Streben eingeräumt wird. Wollten wir doch in Bezug auf gesellige Vereinigung anfangen, von allen Seiten Concessionen zu machen; wollte doch der Mann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/618>, abgerufen am 22.12.2024.