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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Cin Blick in die geselligen Regionen.
Von Adolphine



Unser geselliges Leben gleicht einem Polypen, auf dessen Ober¬
fläche es wimmelt, dessen eigentlicher Körper aber noch in Einer
Masse unzertrennlich festgewachsen ist. Von freier Bewegung der
einzelnen Glieder in einer harmonischen Einheit ist keine Rede. Wir
haben kaum einen Begriff von Geselligkeit, vielweniger entsprechen
unsere tastenden Versuche ihrem eigentlichen Zwecke. Die Mehrzahl
naht dem geselligen Kreise, wie man ins .Theater geht, immer in der
Erwartung, den Vorhang vor sich aufrollen zu sehen, ohne zu be¬
denken, daß sie selbst auf der Bühne steht. Wer keine Rolle spielen
kann, will wenigstens als Publikum unterhalten sein; während doch
nur unsere einzige Aufgabe die ist, eine Rolle zu übernehmen, wenn
auch nur die, sich selbst zu spielen.

Man ist bisweilen versucht, zu glauben, Wirth und Gäste bräch¬
ten sich gegenseitig Opfer und entledigten sich durch Geben und
Nehmen einer schweren, nicht zu umgehenden Pflicht.

Versetzen wir uns einmal in die geselligen Regionen, und sehen
wir, ob wir nicht Bälle, Concerte, Theater, Eß- und Trinkgeftllschaf-
teu in jeder Gestalt und Variation haben, aber kein geselliges Leben.

Wir haben Vereine, in denen der Einzelne etwas vorträgt.
Hier ist wieder das Uebergewicht des Publikums. Wir haben Ge¬
sellschaften, in denen nur getanzt wird; eine Unterhaltung, die wie
die Musik in unseren Tagen, in Ermanglung eines Neuen, und Ver¬
werfung des Alten, Zeit und Raum über Gebühr auszufüllen bestimmt
scheint.


Grenzbote" !8ii. l. 79
Cin Blick in die geselligen Regionen.
Von Adolphine



Unser geselliges Leben gleicht einem Polypen, auf dessen Ober¬
fläche es wimmelt, dessen eigentlicher Körper aber noch in Einer
Masse unzertrennlich festgewachsen ist. Von freier Bewegung der
einzelnen Glieder in einer harmonischen Einheit ist keine Rede. Wir
haben kaum einen Begriff von Geselligkeit, vielweniger entsprechen
unsere tastenden Versuche ihrem eigentlichen Zwecke. Die Mehrzahl
naht dem geselligen Kreise, wie man ins .Theater geht, immer in der
Erwartung, den Vorhang vor sich aufrollen zu sehen, ohne zu be¬
denken, daß sie selbst auf der Bühne steht. Wer keine Rolle spielen
kann, will wenigstens als Publikum unterhalten sein; während doch
nur unsere einzige Aufgabe die ist, eine Rolle zu übernehmen, wenn
auch nur die, sich selbst zu spielen.

Man ist bisweilen versucht, zu glauben, Wirth und Gäste bräch¬
ten sich gegenseitig Opfer und entledigten sich durch Geben und
Nehmen einer schweren, nicht zu umgehenden Pflicht.

Versetzen wir uns einmal in die geselligen Regionen, und sehen
wir, ob wir nicht Bälle, Concerte, Theater, Eß- und Trinkgeftllschaf-
teu in jeder Gestalt und Variation haben, aber kein geselliges Leben.

Wir haben Vereine, in denen der Einzelne etwas vorträgt.
Hier ist wieder das Uebergewicht des Publikums. Wir haben Ge¬
sellschaften, in denen nur getanzt wird; eine Unterhaltung, die wie
die Musik in unseren Tagen, in Ermanglung eines Neuen, und Ver¬
werfung des Alten, Zeit und Raum über Gebühr auszufüllen bestimmt
scheint.


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[0613] Cin Blick in die geselligen Regionen. Von Adolphine Unser geselliges Leben gleicht einem Polypen, auf dessen Ober¬ fläche es wimmelt, dessen eigentlicher Körper aber noch in Einer Masse unzertrennlich festgewachsen ist. Von freier Bewegung der einzelnen Glieder in einer harmonischen Einheit ist keine Rede. Wir haben kaum einen Begriff von Geselligkeit, vielweniger entsprechen unsere tastenden Versuche ihrem eigentlichen Zwecke. Die Mehrzahl naht dem geselligen Kreise, wie man ins .Theater geht, immer in der Erwartung, den Vorhang vor sich aufrollen zu sehen, ohne zu be¬ denken, daß sie selbst auf der Bühne steht. Wer keine Rolle spielen kann, will wenigstens als Publikum unterhalten sein; während doch nur unsere einzige Aufgabe die ist, eine Rolle zu übernehmen, wenn auch nur die, sich selbst zu spielen. Man ist bisweilen versucht, zu glauben, Wirth und Gäste bräch¬ ten sich gegenseitig Opfer und entledigten sich durch Geben und Nehmen einer schweren, nicht zu umgehenden Pflicht. Versetzen wir uns einmal in die geselligen Regionen, und sehen wir, ob wir nicht Bälle, Concerte, Theater, Eß- und Trinkgeftllschaf- teu in jeder Gestalt und Variation haben, aber kein geselliges Leben. Wir haben Vereine, in denen der Einzelne etwas vorträgt. Hier ist wieder das Uebergewicht des Publikums. Wir haben Ge¬ sellschaften, in denen nur getanzt wird; eine Unterhaltung, die wie die Musik in unseren Tagen, in Ermanglung eines Neuen, und Ver¬ werfung des Alten, Zeit und Raum über Gebühr auszufüllen bestimmt scheint. Grenzbote« !8ii. l. 79

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/613>, abgerufen am 03.07.2024.