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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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hauptet, sind zwei mächtig wirkende Ereignisse, ein historisches und
ein poetisches, die Julirevolution und Lord Byron. Das historische
Ereigniß, eine so großartige That, daß sie fast Poesie, das poetische
eine so großartige Poesie, daß sie fast Geschichte geworden! Freilich
ist diese Geschichte eine sich so wenig nach Außen manifestirende, so
tief im Bewußtsein der Zeit, im augenblicklichen Leben der Generation
ruhende, daß ein künftiges Jahrhundert zur richtigen Auffassung der¬
selben kaum in der Literatur der Gegenwart einen vollkommen siche¬
ren Anhaltspunkt finden wird. Wie sollte auch der geheimnißreiche
Schmerzenszug, der durch die Physiognomie unserer Zeit geht, von
Einem verstanden und nachempfunden werden, der nicht mit uns
lebte und dem seine Zeit vielleicht glücklichere und friedensbeseligte
Züge zu bieten hat?

Es ist die Sendung großer Geister, in sich eine Entwickelung
darzustellen, zu der die Menschheit erst gelangen soll, für die ihr aber
der Sinn noch nicht erschlossen; es ist das Schicksal jener Geister,
als unverstandene Propheten durch die Welt, als Opfer dieses Un¬
verstandes aus der Welt zu gehen. So erscheint Lord Byron als
die Vorhersagung einer ihm unmittelbar folgenden Zeit, die er viel¬
leicht nicht verursachte, aber jedenfalls unbewußt verkündete. Wir sehen
in ihm einen Gottgeist mit dem für ihn schauerlichen Loos ringen,
Mensch geworden zu sein. Wie der Horizont des sichtbaren Him¬
mels sich erdenwärts zu wölben und an den wirklich dastehenden Ber¬
gen eine Stütze zu finden scheint, so verlangt der Mensch, daß der
Himmel, den er als Traum, Wunsch, Ideal oder mit einem Wort
M Poesie in seinem Innern trägt, sich zur Erde neigen und am
wirklichen Leben eine Basis gewinnen könne. Je klarer, je allum¬
fassender aber der Seelenhimmel jenes großen Dichters hervortrat,
desto weniger vermochte die schwache Wirklichkeit diesen Himmel zu
tragen, dessen Sterne von den Sümpfen der Erde nur trüb und halb
erloschen zurückgespiegelt wurden. Schon die ersten Jugendtäuschun¬
gen, in alltäglichen, leicht mit der Welt versöhnten Gemüthern kaum
eine Spur zurücklassend, wirkten auf Lord Byron wie die Aufforder¬
ung zum schrecklichsten Kampf mit dem Leben, das er in die engen
Grenzen von Wiege und Grab einschloß, um, auf keine Zukunft
hoffend, das Dasein in seiner ganzen Gräßlichkeit zu fühlen. Ihm
genügte der Vorzug nicht, den 'der Dichter vor anderen Sterblichen


hauptet, sind zwei mächtig wirkende Ereignisse, ein historisches und
ein poetisches, die Julirevolution und Lord Byron. Das historische
Ereigniß, eine so großartige That, daß sie fast Poesie, das poetische
eine so großartige Poesie, daß sie fast Geschichte geworden! Freilich
ist diese Geschichte eine sich so wenig nach Außen manifestirende, so
tief im Bewußtsein der Zeit, im augenblicklichen Leben der Generation
ruhende, daß ein künftiges Jahrhundert zur richtigen Auffassung der¬
selben kaum in der Literatur der Gegenwart einen vollkommen siche¬
ren Anhaltspunkt finden wird. Wie sollte auch der geheimnißreiche
Schmerzenszug, der durch die Physiognomie unserer Zeit geht, von
Einem verstanden und nachempfunden werden, der nicht mit uns
lebte und dem seine Zeit vielleicht glücklichere und friedensbeseligte
Züge zu bieten hat?

Es ist die Sendung großer Geister, in sich eine Entwickelung
darzustellen, zu der die Menschheit erst gelangen soll, für die ihr aber
der Sinn noch nicht erschlossen; es ist das Schicksal jener Geister,
als unverstandene Propheten durch die Welt, als Opfer dieses Un¬
verstandes aus der Welt zu gehen. So erscheint Lord Byron als
die Vorhersagung einer ihm unmittelbar folgenden Zeit, die er viel¬
leicht nicht verursachte, aber jedenfalls unbewußt verkündete. Wir sehen
in ihm einen Gottgeist mit dem für ihn schauerlichen Loos ringen,
Mensch geworden zu sein. Wie der Horizont des sichtbaren Him¬
mels sich erdenwärts zu wölben und an den wirklich dastehenden Ber¬
gen eine Stütze zu finden scheint, so verlangt der Mensch, daß der
Himmel, den er als Traum, Wunsch, Ideal oder mit einem Wort
M Poesie in seinem Innern trägt, sich zur Erde neigen und am
wirklichen Leben eine Basis gewinnen könne. Je klarer, je allum¬
fassender aber der Seelenhimmel jenes großen Dichters hervortrat,
desto weniger vermochte die schwache Wirklichkeit diesen Himmel zu
tragen, dessen Sterne von den Sümpfen der Erde nur trüb und halb
erloschen zurückgespiegelt wurden. Schon die ersten Jugendtäuschun¬
gen, in alltäglichen, leicht mit der Welt versöhnten Gemüthern kaum
eine Spur zurücklassend, wirkten auf Lord Byron wie die Aufforder¬
ung zum schrecklichsten Kampf mit dem Leben, das er in die engen
Grenzen von Wiege und Grab einschloß, um, auf keine Zukunft
hoffend, das Dasein in seiner ganzen Gräßlichkeit zu fühlen. Ihm
genügte der Vorzug nicht, den 'der Dichter vor anderen Sterblichen


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[0584] hauptet, sind zwei mächtig wirkende Ereignisse, ein historisches und ein poetisches, die Julirevolution und Lord Byron. Das historische Ereigniß, eine so großartige That, daß sie fast Poesie, das poetische eine so großartige Poesie, daß sie fast Geschichte geworden! Freilich ist diese Geschichte eine sich so wenig nach Außen manifestirende, so tief im Bewußtsein der Zeit, im augenblicklichen Leben der Generation ruhende, daß ein künftiges Jahrhundert zur richtigen Auffassung der¬ selben kaum in der Literatur der Gegenwart einen vollkommen siche¬ ren Anhaltspunkt finden wird. Wie sollte auch der geheimnißreiche Schmerzenszug, der durch die Physiognomie unserer Zeit geht, von Einem verstanden und nachempfunden werden, der nicht mit uns lebte und dem seine Zeit vielleicht glücklichere und friedensbeseligte Züge zu bieten hat? Es ist die Sendung großer Geister, in sich eine Entwickelung darzustellen, zu der die Menschheit erst gelangen soll, für die ihr aber der Sinn noch nicht erschlossen; es ist das Schicksal jener Geister, als unverstandene Propheten durch die Welt, als Opfer dieses Un¬ verstandes aus der Welt zu gehen. So erscheint Lord Byron als die Vorhersagung einer ihm unmittelbar folgenden Zeit, die er viel¬ leicht nicht verursachte, aber jedenfalls unbewußt verkündete. Wir sehen in ihm einen Gottgeist mit dem für ihn schauerlichen Loos ringen, Mensch geworden zu sein. Wie der Horizont des sichtbaren Him¬ mels sich erdenwärts zu wölben und an den wirklich dastehenden Ber¬ gen eine Stütze zu finden scheint, so verlangt der Mensch, daß der Himmel, den er als Traum, Wunsch, Ideal oder mit einem Wort M Poesie in seinem Innern trägt, sich zur Erde neigen und am wirklichen Leben eine Basis gewinnen könne. Je klarer, je allum¬ fassender aber der Seelenhimmel jenes großen Dichters hervortrat, desto weniger vermochte die schwache Wirklichkeit diesen Himmel zu tragen, dessen Sterne von den Sümpfen der Erde nur trüb und halb erloschen zurückgespiegelt wurden. Schon die ersten Jugendtäuschun¬ gen, in alltäglichen, leicht mit der Welt versöhnten Gemüthern kaum eine Spur zurücklassend, wirkten auf Lord Byron wie die Aufforder¬ ung zum schrecklichsten Kampf mit dem Leben, das er in die engen Grenzen von Wiege und Grab einschloß, um, auf keine Zukunft hoffend, das Dasein in seiner ganzen Gräßlichkeit zu fühlen. Ihm genügte der Vorzug nicht, den 'der Dichter vor anderen Sterblichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/584>, abgerufen am 23.12.2024.