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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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ebur zu wählen und sich mit einem kühnen Sprung auf die sonn-
stheinige Gasse in die Arme des Volkes zu stürzen, machte sie einen
Umweg durch den Salon. Durch die "Gesellschaft" sollten Literatur
und Leben vermittelt werden. Dies war ein grosier Irrthum. In
Frankreich ist die Gesellschaft ein Gegebenes; sie ist eine natürliche
und nationale Frucht des Staatslebens. Offen stehen ihre Flügel¬
thüren den lauten Strömungen und Widerhallen der Volköwelt; die
Grazie wird da nicht durch leises Auftreten, der gute Ton nicht durch
Kälte und Gleichgiltigkeit erkauft. Bei uns gibt es Gesellschaften,
aber keine Gesellschaft. Was man so nennen könnte, hat in jedem
Theile Deutschlands andere Physiognomie, anderen Geist. Was aber
wirklich, durch eine gewisse gleichartige Bildung und Haltung, den
allgemeinen Namen: deutsche Gesellschaft verdient, ist fast eben so er-
clusiv, wie die Kunstkreise, fällt in jene Regionen, die sich beinahe in
der ganzen civilisirten Welt gleichen, und hat von der eigenthümlich
deutschen Natur höchstens das Unpraktische, Rücksichtsvolle und Pein¬
liche an sich. Diese "Gesellschaft" war zu keiner lebendigen Begei¬
sterung für die Bewegungen der Zeit und des Volkes hinzureißen,
höchstens zu geistreichen Reflexionen darüber; da konnte eine hoch¬
strebende Literatur keine Wurzel schlagen. Man nahm sie mit Ar¬
tigkeit auf, man ließ sich vorschwatzen von Philosophie, Politik, Re¬
ligion -- warum nicht? Dies Alles ließ sich benutzen; man bekannte
selbst die freisinnigsten Grundsätze, wenn sie manierlich vorgesagt wur¬
den, und ließ sich als Barometer des Fortschrittes, als Blüthe der
Nation, als Bahnhof der Zukunft ausrufen. Ohne auf diese Art in
Zusammenhang mit dem Leben zu kommen, gewöhnte sich die Lite¬
ratur blos einen exclusiver Ton an, der ihr das Ohr des Volkes
verschloß und doch auch nicht die anerkannte Sprache der Vornehm¬
heit war. Indessen war die Gesellschaft das neu entdeckte gelobte
Land, das Schiboleth, die Mode deö Tages geworden. Wenn die
Literatur mit ihren tiefsinnigsten Fragen und geheiminßvollsten Pro-
phezeihungen sich an die Gesellschaft wandte, wie lebhaft mußte man
verlangen, auch Bilder aus dieser Gesellschaft zu sehen, die so lebhaft
gleichen Schritt mit der Zeit ging, ja sogar ihr vorauseilte. Ist doch
auch in Frankreich die Gesellschaft der nationale Boden, auf dem die
Romane spielen. So entstand die Literatur "aus der Gesellschaft";
und hier mußten die feinen, kundigen Frauenfingcr den Preis gewin-


ebur zu wählen und sich mit einem kühnen Sprung auf die sonn-
stheinige Gasse in die Arme des Volkes zu stürzen, machte sie einen
Umweg durch den Salon. Durch die „Gesellschaft" sollten Literatur
und Leben vermittelt werden. Dies war ein grosier Irrthum. In
Frankreich ist die Gesellschaft ein Gegebenes; sie ist eine natürliche
und nationale Frucht des Staatslebens. Offen stehen ihre Flügel¬
thüren den lauten Strömungen und Widerhallen der Volköwelt; die
Grazie wird da nicht durch leises Auftreten, der gute Ton nicht durch
Kälte und Gleichgiltigkeit erkauft. Bei uns gibt es Gesellschaften,
aber keine Gesellschaft. Was man so nennen könnte, hat in jedem
Theile Deutschlands andere Physiognomie, anderen Geist. Was aber
wirklich, durch eine gewisse gleichartige Bildung und Haltung, den
allgemeinen Namen: deutsche Gesellschaft verdient, ist fast eben so er-
clusiv, wie die Kunstkreise, fällt in jene Regionen, die sich beinahe in
der ganzen civilisirten Welt gleichen, und hat von der eigenthümlich
deutschen Natur höchstens das Unpraktische, Rücksichtsvolle und Pein¬
liche an sich. Diese „Gesellschaft" war zu keiner lebendigen Begei¬
sterung für die Bewegungen der Zeit und des Volkes hinzureißen,
höchstens zu geistreichen Reflexionen darüber; da konnte eine hoch¬
strebende Literatur keine Wurzel schlagen. Man nahm sie mit Ar¬
tigkeit auf, man ließ sich vorschwatzen von Philosophie, Politik, Re¬
ligion — warum nicht? Dies Alles ließ sich benutzen; man bekannte
selbst die freisinnigsten Grundsätze, wenn sie manierlich vorgesagt wur¬
den, und ließ sich als Barometer des Fortschrittes, als Blüthe der
Nation, als Bahnhof der Zukunft ausrufen. Ohne auf diese Art in
Zusammenhang mit dem Leben zu kommen, gewöhnte sich die Lite¬
ratur blos einen exclusiver Ton an, der ihr das Ohr des Volkes
verschloß und doch auch nicht die anerkannte Sprache der Vornehm¬
heit war. Indessen war die Gesellschaft das neu entdeckte gelobte
Land, das Schiboleth, die Mode deö Tages geworden. Wenn die
Literatur mit ihren tiefsinnigsten Fragen und geheiminßvollsten Pro-
phezeihungen sich an die Gesellschaft wandte, wie lebhaft mußte man
verlangen, auch Bilder aus dieser Gesellschaft zu sehen, die so lebhaft
gleichen Schritt mit der Zeit ging, ja sogar ihr vorauseilte. Ist doch
auch in Frankreich die Gesellschaft der nationale Boden, auf dem die
Romane spielen. So entstand die Literatur „aus der Gesellschaft";
und hier mußten die feinen, kundigen Frauenfingcr den Preis gewin-


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[0552] ebur zu wählen und sich mit einem kühnen Sprung auf die sonn- stheinige Gasse in die Arme des Volkes zu stürzen, machte sie einen Umweg durch den Salon. Durch die „Gesellschaft" sollten Literatur und Leben vermittelt werden. Dies war ein grosier Irrthum. In Frankreich ist die Gesellschaft ein Gegebenes; sie ist eine natürliche und nationale Frucht des Staatslebens. Offen stehen ihre Flügel¬ thüren den lauten Strömungen und Widerhallen der Volköwelt; die Grazie wird da nicht durch leises Auftreten, der gute Ton nicht durch Kälte und Gleichgiltigkeit erkauft. Bei uns gibt es Gesellschaften, aber keine Gesellschaft. Was man so nennen könnte, hat in jedem Theile Deutschlands andere Physiognomie, anderen Geist. Was aber wirklich, durch eine gewisse gleichartige Bildung und Haltung, den allgemeinen Namen: deutsche Gesellschaft verdient, ist fast eben so er- clusiv, wie die Kunstkreise, fällt in jene Regionen, die sich beinahe in der ganzen civilisirten Welt gleichen, und hat von der eigenthümlich deutschen Natur höchstens das Unpraktische, Rücksichtsvolle und Pein¬ liche an sich. Diese „Gesellschaft" war zu keiner lebendigen Begei¬ sterung für die Bewegungen der Zeit und des Volkes hinzureißen, höchstens zu geistreichen Reflexionen darüber; da konnte eine hoch¬ strebende Literatur keine Wurzel schlagen. Man nahm sie mit Ar¬ tigkeit auf, man ließ sich vorschwatzen von Philosophie, Politik, Re¬ ligion — warum nicht? Dies Alles ließ sich benutzen; man bekannte selbst die freisinnigsten Grundsätze, wenn sie manierlich vorgesagt wur¬ den, und ließ sich als Barometer des Fortschrittes, als Blüthe der Nation, als Bahnhof der Zukunft ausrufen. Ohne auf diese Art in Zusammenhang mit dem Leben zu kommen, gewöhnte sich die Lite¬ ratur blos einen exclusiver Ton an, der ihr das Ohr des Volkes verschloß und doch auch nicht die anerkannte Sprache der Vornehm¬ heit war. Indessen war die Gesellschaft das neu entdeckte gelobte Land, das Schiboleth, die Mode deö Tages geworden. Wenn die Literatur mit ihren tiefsinnigsten Fragen und geheiminßvollsten Pro- phezeihungen sich an die Gesellschaft wandte, wie lebhaft mußte man verlangen, auch Bilder aus dieser Gesellschaft zu sehen, die so lebhaft gleichen Schritt mit der Zeit ging, ja sogar ihr vorauseilte. Ist doch auch in Frankreich die Gesellschaft der nationale Boden, auf dem die Romane spielen. So entstand die Literatur „aus der Gesellschaft"; und hier mußten die feinen, kundigen Frauenfingcr den Preis gewin-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/552>, abgerufen am 23.12.2024.