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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Juden, die sich paßlos oder mit abgelaufenem Paß über der Grenze
betreffen lassen*), sollen nach dem Gesetz über Ausreißer und Land
laufer behandelt werden ; auch wenn ihr Geburtsort bekannt und ihre
Gemeinde bereit wäre, sie zu reclamiren. Sie sind an's Militär ab¬
zuliefern, ohne Rekrutcnanrechnung, d. h. ohne daß ihre Gemeinde
darum einen Mann weniger zu stellen brauchte. Wenn sie zum
Militärdienst untauglich sind, sollen sie zur Strafarbeit Verwender,
und wenn sie auch dazu nicht taugen, mit ihren Weibern "zur An-
siedlung" nach Sibirien geschickt werden.

Wird man nicht bald von der russischen Grenze diesen Mas be¬
richtigen? Wir sind begierig, wie man dies anfängt. Wenn man
nicht beweis't, daß er eine Lüge ist oder daß russische Mase nie zur
Ausführung kommen oder daß sie das Gegentheil von dem bedeute",
was sie sagen, so wissen wir nicht, wie man seine Wirkung auf die
Gemüther paralysiren will. Vielleicht muß Czar Nikolaus seine Mase
mit so ehernem Finger schreiben, weil er sein Volk genau kennt und
weiß, daß die "slavische Weichheit" seiner Kosaken und Gensdarmen
dieselben ohnedies in der Ausführung mildert. Freilich. Wenn
man bedenkt, mit welcher Buchstäblicher, mit welcher Willkür
gegen freie Ausländer verfahren wird, die der Grenze
nicht vorsichtig genug ausweichen**), so wird man' sich denken
können, was eine kaiserliche Ordre gegen die Juden, gegen russische
Juden zu bedeuten hat; daß sie die ganze jüdische Bevölkerung unter
polizeiliche Aufsicht stellt, daß der gemeine Muschik oder Straßnik sie
als seine gute Prise betrachten, sie brandschatzen, quälen und treten
kann nach Belieben. Das Schicksal eines Menschen vom Ablaufen
seines Passes abhängig zu machen! Im civilisirten Europa reisen
Tausende in ihrem Vaterlande ohne Paß, im Auslande mit längst
abgelaufenen Pässen. Wie kann man auch in solchen Dingen strenge
Bestimmungen treffen, wo die haarscharfe Linie des Gesetzes so leicht
überschritten ist! Der Geschäftsmann, der Arzt, der Reisende über¬
haupt, der von tausend Zufälligkeiten abhängt -- ein Tag der Saum-




*) Es ist unklar, welche Grenze gemeint ist. Wenn es die Grenze des
Reichs überhaupt ist, so wäre der Ukas gegen jene Juden gerichtet, die aus
Verzweiflung auszuwandern suchen, würde aber dann nothwendig die Erneu-
rung des Cartells mit Preußen voraussetzen. Es sind ihnen aber auch im
Innern des Reichs gewisse Grenzen angewiesen, die sie ohne specielle Erlaub-
nisi nicht überschreiten dürfen. So dürfen sie nicht nach Moskau und in die
östlichen Gouvernements.
Da>s Wort ist nicht übertrieben. Unlängst fuhren zwei Preußen aus
einem preußischen Dorf nach einem anderen und verirrten sich des Abends im
Schneegestöber um einige Schritte über die Grenze, die dort quer über einen
gefrorenen See lief. Sie wurden ergriffen, mit Kette" beladen in's Gefängniß
geworfen und erst für ein bedeutendes Lösegeld auf die Reklamation ihrer
preussischen Behörde zurückgelassen. Dies meldete selbst die Allgemeine Königs-
berger Zeitung.
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Juden, die sich paßlos oder mit abgelaufenem Paß über der Grenze
betreffen lassen*), sollen nach dem Gesetz über Ausreißer und Land
laufer behandelt werden ; auch wenn ihr Geburtsort bekannt und ihre
Gemeinde bereit wäre, sie zu reclamiren. Sie sind an's Militär ab¬
zuliefern, ohne Rekrutcnanrechnung, d. h. ohne daß ihre Gemeinde
darum einen Mann weniger zu stellen brauchte. Wenn sie zum
Militärdienst untauglich sind, sollen sie zur Strafarbeit Verwender,
und wenn sie auch dazu nicht taugen, mit ihren Weibern „zur An-
siedlung" nach Sibirien geschickt werden.

Wird man nicht bald von der russischen Grenze diesen Mas be¬
richtigen? Wir sind begierig, wie man dies anfängt. Wenn man
nicht beweis't, daß er eine Lüge ist oder daß russische Mase nie zur
Ausführung kommen oder daß sie das Gegentheil von dem bedeute»,
was sie sagen, so wissen wir nicht, wie man seine Wirkung auf die
Gemüther paralysiren will. Vielleicht muß Czar Nikolaus seine Mase
mit so ehernem Finger schreiben, weil er sein Volk genau kennt und
weiß, daß die „slavische Weichheit" seiner Kosaken und Gensdarmen
dieselben ohnedies in der Ausführung mildert. Freilich. Wenn
man bedenkt, mit welcher Buchstäblicher, mit welcher Willkür
gegen freie Ausländer verfahren wird, die der Grenze
nicht vorsichtig genug ausweichen**), so wird man' sich denken
können, was eine kaiserliche Ordre gegen die Juden, gegen russische
Juden zu bedeuten hat; daß sie die ganze jüdische Bevölkerung unter
polizeiliche Aufsicht stellt, daß der gemeine Muschik oder Straßnik sie
als seine gute Prise betrachten, sie brandschatzen, quälen und treten
kann nach Belieben. Das Schicksal eines Menschen vom Ablaufen
seines Passes abhängig zu machen! Im civilisirten Europa reisen
Tausende in ihrem Vaterlande ohne Paß, im Auslande mit längst
abgelaufenen Pässen. Wie kann man auch in solchen Dingen strenge
Bestimmungen treffen, wo die haarscharfe Linie des Gesetzes so leicht
überschritten ist! Der Geschäftsmann, der Arzt, der Reisende über¬
haupt, der von tausend Zufälligkeiten abhängt — ein Tag der Saum-




*) Es ist unklar, welche Grenze gemeint ist. Wenn es die Grenze des
Reichs überhaupt ist, so wäre der Ukas gegen jene Juden gerichtet, die aus
Verzweiflung auszuwandern suchen, würde aber dann nothwendig die Erneu-
rung des Cartells mit Preußen voraussetzen. Es sind ihnen aber auch im
Innern des Reichs gewisse Grenzen angewiesen, die sie ohne specielle Erlaub-
nisi nicht überschreiten dürfen. So dürfen sie nicht nach Moskau und in die
östlichen Gouvernements.
Da>s Wort ist nicht übertrieben. Unlängst fuhren zwei Preußen aus
einem preußischen Dorf nach einem anderen und verirrten sich des Abends im
Schneegestöber um einige Schritte über die Grenze, die dort quer über einen
gefrorenen See lief. Sie wurden ergriffen, mit Kette» beladen in's Gefängniß
geworfen und erst für ein bedeutendes Lösegeld auf die Reklamation ihrer
preussischen Behörde zurückgelassen. Dies meldete selbst die Allgemeine Königs-
berger Zeitung.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/483>, abgerufen am 23.12.2024.