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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Fehler, sowohl im Drama als Roman, wenn uns der Nimbus, der
den Helden umgeben sott, nicht selbst bemerkbar wird, sondern blos
aus den Folgen, aus Aeußerungen auf andere Handelnde hervorgeht,
hier aber ist er um so gefährlicher, als Manches in Wittich's Trei¬
ben unklar wird. Den Amtshauptmann treibt nicht, wie in dem
Roman, bloße Sinnlichkeit an die Seite Marie's, sondern ein psycho¬
logisches Motiv; er sucht die geistige Triebfeder ihres Wesens, er
"schmachtet nach ihrer Seele". Abgesehen davon, daß, wie gesagt,
dieses Interesse nirgends deutlich motivirt wird, so ist schon dieser
Grundgedanke an und für sich ein unglücklicher für die engen Schran¬
ken eines Dramas, der überall auch aus manchen Blüthen wie ein
böses Gespenst hervortritt. Hebbel hat bereits dasselbe in seiner Ju¬
dith versucht, aber auch seine wahrhaft poetische Schöpfung für die
Darstellung zu Grabe gebracht. Die philosophische Begründung einer
Entwicklung ist undramatisch, die psychologische Einheit mag durch
die Handlung, aber nicht umgekehrt die Einheit der Handlung auf
dem Wege der Psychologie erzielt werden. Der erste Act schließt mit
der Drohung des zurückgewiesenen Wittich, sich vermöge seiner Macht
durch einen peinlichen Prozeß an ihr zu rächen, wozu ihm die Kvl-
kenliese, die ihren Herenehrgeiz gehemmt sieht, bereitwillig die Hand
bietet. Die drei folgenden Acte zeigen die Fortentwickelung des im
ersten angedeuteten Hauptfadens, des Herenprozesseö, der aber nicht
als substantielle Basis einer Idee, sondern blos als Träger eines
einzelnen tragischen Geschickes erscheint. Dies ist abermals ein Mi߬
griff, in den freilich die neueren Dramatiker so oft verfallen. Laube
hätte leicht dies Drama auf den Standpunkt eines principiellen Kam¬
pfes erheben können, es gingen ihm hierzu Handlung wie Zeit zur
Hand, und er wäre der erwähnten Charakter- und Thatendesinition
überhoben gewesen. In den großen historischen Gemälden Schiller's,
Shcckspeare's und Göthe's sind die Personen Repräsentanten ihrer
Zeit; in des ersteren Jeanne d'Arc, die hier am ersten zum Vergleich
dienen mag, ist das Reale, d. h. das Geschick des Individuums, in¬
nig verwoben mit dem Idealen, der Zeit. Laube hat nur ein indi¬
viduelles Schicksal dramatisirt. Marie wird von den Bauern auf
dein Rückwege aus der Kirche verfolgt, der Amtshauptmann hat be¬
reits nach den Richtern geschickt, ihr Geliebter ist durch Vorspiege¬
lungen, Drohungen und halbe Rücksichten auf den Pflegevater von


Fehler, sowohl im Drama als Roman, wenn uns der Nimbus, der
den Helden umgeben sott, nicht selbst bemerkbar wird, sondern blos
aus den Folgen, aus Aeußerungen auf andere Handelnde hervorgeht,
hier aber ist er um so gefährlicher, als Manches in Wittich's Trei¬
ben unklar wird. Den Amtshauptmann treibt nicht, wie in dem
Roman, bloße Sinnlichkeit an die Seite Marie's, sondern ein psycho¬
logisches Motiv; er sucht die geistige Triebfeder ihres Wesens, er
„schmachtet nach ihrer Seele". Abgesehen davon, daß, wie gesagt,
dieses Interesse nirgends deutlich motivirt wird, so ist schon dieser
Grundgedanke an und für sich ein unglücklicher für die engen Schran¬
ken eines Dramas, der überall auch aus manchen Blüthen wie ein
böses Gespenst hervortritt. Hebbel hat bereits dasselbe in seiner Ju¬
dith versucht, aber auch seine wahrhaft poetische Schöpfung für die
Darstellung zu Grabe gebracht. Die philosophische Begründung einer
Entwicklung ist undramatisch, die psychologische Einheit mag durch
die Handlung, aber nicht umgekehrt die Einheit der Handlung auf
dem Wege der Psychologie erzielt werden. Der erste Act schließt mit
der Drohung des zurückgewiesenen Wittich, sich vermöge seiner Macht
durch einen peinlichen Prozeß an ihr zu rächen, wozu ihm die Kvl-
kenliese, die ihren Herenehrgeiz gehemmt sieht, bereitwillig die Hand
bietet. Die drei folgenden Acte zeigen die Fortentwickelung des im
ersten angedeuteten Hauptfadens, des Herenprozesseö, der aber nicht
als substantielle Basis einer Idee, sondern blos als Träger eines
einzelnen tragischen Geschickes erscheint. Dies ist abermals ein Mi߬
griff, in den freilich die neueren Dramatiker so oft verfallen. Laube
hätte leicht dies Drama auf den Standpunkt eines principiellen Kam¬
pfes erheben können, es gingen ihm hierzu Handlung wie Zeit zur
Hand, und er wäre der erwähnten Charakter- und Thatendesinition
überhoben gewesen. In den großen historischen Gemälden Schiller's,
Shcckspeare's und Göthe's sind die Personen Repräsentanten ihrer
Zeit; in des ersteren Jeanne d'Arc, die hier am ersten zum Vergleich
dienen mag, ist das Reale, d. h. das Geschick des Individuums, in¬
nig verwoben mit dem Idealen, der Zeit. Laube hat nur ein indi¬
viduelles Schicksal dramatisirt. Marie wird von den Bauern auf
dein Rückwege aus der Kirche verfolgt, der Amtshauptmann hat be¬
reits nach den Richtern geschickt, ihr Geliebter ist durch Vorspiege¬
lungen, Drohungen und halbe Rücksichten auf den Pflegevater von


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[0426] Fehler, sowohl im Drama als Roman, wenn uns der Nimbus, der den Helden umgeben sott, nicht selbst bemerkbar wird, sondern blos aus den Folgen, aus Aeußerungen auf andere Handelnde hervorgeht, hier aber ist er um so gefährlicher, als Manches in Wittich's Trei¬ ben unklar wird. Den Amtshauptmann treibt nicht, wie in dem Roman, bloße Sinnlichkeit an die Seite Marie's, sondern ein psycho¬ logisches Motiv; er sucht die geistige Triebfeder ihres Wesens, er „schmachtet nach ihrer Seele". Abgesehen davon, daß, wie gesagt, dieses Interesse nirgends deutlich motivirt wird, so ist schon dieser Grundgedanke an und für sich ein unglücklicher für die engen Schran¬ ken eines Dramas, der überall auch aus manchen Blüthen wie ein böses Gespenst hervortritt. Hebbel hat bereits dasselbe in seiner Ju¬ dith versucht, aber auch seine wahrhaft poetische Schöpfung für die Darstellung zu Grabe gebracht. Die philosophische Begründung einer Entwicklung ist undramatisch, die psychologische Einheit mag durch die Handlung, aber nicht umgekehrt die Einheit der Handlung auf dem Wege der Psychologie erzielt werden. Der erste Act schließt mit der Drohung des zurückgewiesenen Wittich, sich vermöge seiner Macht durch einen peinlichen Prozeß an ihr zu rächen, wozu ihm die Kvl- kenliese, die ihren Herenehrgeiz gehemmt sieht, bereitwillig die Hand bietet. Die drei folgenden Acte zeigen die Fortentwickelung des im ersten angedeuteten Hauptfadens, des Herenprozesseö, der aber nicht als substantielle Basis einer Idee, sondern blos als Träger eines einzelnen tragischen Geschickes erscheint. Dies ist abermals ein Mi߬ griff, in den freilich die neueren Dramatiker so oft verfallen. Laube hätte leicht dies Drama auf den Standpunkt eines principiellen Kam¬ pfes erheben können, es gingen ihm hierzu Handlung wie Zeit zur Hand, und er wäre der erwähnten Charakter- und Thatendesinition überhoben gewesen. In den großen historischen Gemälden Schiller's, Shcckspeare's und Göthe's sind die Personen Repräsentanten ihrer Zeit; in des ersteren Jeanne d'Arc, die hier am ersten zum Vergleich dienen mag, ist das Reale, d. h. das Geschick des Individuums, in¬ nig verwoben mit dem Idealen, der Zeit. Laube hat nur ein indi¬ viduelles Schicksal dramatisirt. Marie wird von den Bauern auf dein Rückwege aus der Kirche verfolgt, der Amtshauptmann hat be¬ reits nach den Richtern geschickt, ihr Geliebter ist durch Vorspiege¬ lungen, Drohungen und halbe Rücksichten auf den Pflegevater von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/426>, abgerufen am 22.12.2024.