höheren Orts nicht bemerkt; das Publicum wird sich fern halten und die Opposition ohnehin bei ihrem Spruch beharren. In einem ge¬ meinen Epikuräismus den Schmerz über sein Schicksal verfaulen und Schmarotzerpflanzen darauf wachsen zu lassen, das würde Dingelstedt schon bei seinem Ehrgeiz und seinem Sinn für geistige Schönheit nicht ge¬ lingen, selbst wenn er wollte. Was bleibt ihm übrig? Wird er im Groll über die ihm die ihm widerfahrene harte Behandlung, zu den Interessen der Gegenpartei übertreten, ihr seine Feder zur Verfügung stellen? Oder wird er, gewarnt durch seinen Schiffbruch, sein Gewis¬ sen als Compaß, die Männlichkeit am Steuer, ohne an den Klippen seiner Umgebung zu scheitern, sich aus dem windigen Scheerenkessel, wohin eine leichtfertige Stunde ihn geworfen, wieder herausfinden in ein Fahrwasser? Sein Schiff hat gelitten: noch jetzt scheint es plan¬ los und gefährdet zu irren; aber verloren ist es noch nicht und wird auch der Leck immerhin sichtbar bleiben; reparirte Schiffe sind darum noch nicht die schlechtesten.
Dies veranlaßt mich schließlich noch zu einer Bemerkung. Ver¬ dammen ist leicht, selbst für Diejenigen, welche nur Zufall vor glei¬ chem Fehltritte bewahrte. Dennoch zwingt uns die Unvollkommen- heit der menschlichen Einrichtungen, hart zu sein. Fällt eine Hand^ lung unter den und den Artikel des Strafgesetzes, so spricht der Rich¬ ter sein Erkenntniß, ohne den vielfach verschlungenen Knäuel von Erziehung, Zufall, Macht des Beispiels, Temperament, Gewohnheit, Affecr, Krankheit, welcher den Anfangöknoten jenes verbrecherischen Willens etwa bildete, lösen oder berücksichtigen zu können. So muß auch die politische Moral nach bestimmten Gesetzen eine That ver-- urtheilen, den Thäter strafen. Traurig aber ist es, zu sehen, wie nicht nur Mancher, dem es gelang, seine auf den gemeinsten Grün¬ den beruhende Apostasie unvermerkt zu bewerkstelligen, sondern auch Der und Jener, dessen Charakter von lange her anrüchig ist und der im Liberalismus speculirt, wie ein Anderer in Korn oder Metalli- aues, jetzt als gleißender Pharisäer Entsetzen und Empörung über Din¬ gelstedt heuchelt, dessen Fehltritt ein großer, dessen Natur aber noch heute hundertmal edler ist, als die jener Menschen. Wen es angeht, der wird mich verstehen. Lieber vogelfrei, wie Dingelstedt, als ein Verfolger wie Jene!
Siegmund sah.oll.
höheren Orts nicht bemerkt; das Publicum wird sich fern halten und die Opposition ohnehin bei ihrem Spruch beharren. In einem ge¬ meinen Epikuräismus den Schmerz über sein Schicksal verfaulen und Schmarotzerpflanzen darauf wachsen zu lassen, das würde Dingelstedt schon bei seinem Ehrgeiz und seinem Sinn für geistige Schönheit nicht ge¬ lingen, selbst wenn er wollte. Was bleibt ihm übrig? Wird er im Groll über die ihm die ihm widerfahrene harte Behandlung, zu den Interessen der Gegenpartei übertreten, ihr seine Feder zur Verfügung stellen? Oder wird er, gewarnt durch seinen Schiffbruch, sein Gewis¬ sen als Compaß, die Männlichkeit am Steuer, ohne an den Klippen seiner Umgebung zu scheitern, sich aus dem windigen Scheerenkessel, wohin eine leichtfertige Stunde ihn geworfen, wieder herausfinden in ein Fahrwasser? Sein Schiff hat gelitten: noch jetzt scheint es plan¬ los und gefährdet zu irren; aber verloren ist es noch nicht und wird auch der Leck immerhin sichtbar bleiben; reparirte Schiffe sind darum noch nicht die schlechtesten.
Dies veranlaßt mich schließlich noch zu einer Bemerkung. Ver¬ dammen ist leicht, selbst für Diejenigen, welche nur Zufall vor glei¬ chem Fehltritte bewahrte. Dennoch zwingt uns die Unvollkommen- heit der menschlichen Einrichtungen, hart zu sein. Fällt eine Hand^ lung unter den und den Artikel des Strafgesetzes, so spricht der Rich¬ ter sein Erkenntniß, ohne den vielfach verschlungenen Knäuel von Erziehung, Zufall, Macht des Beispiels, Temperament, Gewohnheit, Affecr, Krankheit, welcher den Anfangöknoten jenes verbrecherischen Willens etwa bildete, lösen oder berücksichtigen zu können. So muß auch die politische Moral nach bestimmten Gesetzen eine That ver-- urtheilen, den Thäter strafen. Traurig aber ist es, zu sehen, wie nicht nur Mancher, dem es gelang, seine auf den gemeinsten Grün¬ den beruhende Apostasie unvermerkt zu bewerkstelligen, sondern auch Der und Jener, dessen Charakter von lange her anrüchig ist und der im Liberalismus speculirt, wie ein Anderer in Korn oder Metalli- aues, jetzt als gleißender Pharisäer Entsetzen und Empörung über Din¬ gelstedt heuchelt, dessen Fehltritt ein großer, dessen Natur aber noch heute hundertmal edler ist, als die jener Menschen. Wen es angeht, der wird mich verstehen. Lieber vogelfrei, wie Dingelstedt, als ein Verfolger wie Jene!
Siegmund sah.oll.
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meinen Epikuräismus den Schmerz über sein Schicksal verfaulen und
Schmarotzerpflanzen darauf wachsen zu lassen, das würde Dingelstedt
schon bei seinem Ehrgeiz und seinem Sinn für geistige Schönheit nicht ge¬
lingen, selbst wenn er wollte. Was bleibt ihm übrig? Wird er im
Groll über die ihm die ihm widerfahrene harte Behandlung, zu den
Interessen der Gegenpartei übertreten, ihr seine Feder zur Verfügung
stellen? Oder wird er, gewarnt durch seinen Schiffbruch, sein Gewis¬
sen als Compaß, die Männlichkeit am Steuer, ohne an den Klippen
seiner Umgebung zu scheitern, sich aus dem windigen Scheerenkessel,
wohin eine leichtfertige Stunde ihn geworfen, wieder herausfinden in
ein Fahrwasser? Sein Schiff hat gelitten: noch jetzt scheint es plan¬
los und gefährdet zu irren; aber verloren ist es noch nicht und wird
auch der Leck immerhin sichtbar bleiben; reparirte Schiffe sind darum
noch nicht die schlechtesten.
Dies veranlaßt mich schließlich noch zu einer Bemerkung. Ver¬
dammen ist leicht, selbst für Diejenigen, welche nur Zufall vor glei¬
chem Fehltritte bewahrte. Dennoch zwingt uns die Unvollkommen-
heit der menschlichen Einrichtungen, hart zu sein. Fällt eine Hand^
lung unter den und den Artikel des Strafgesetzes, so spricht der Rich¬
ter sein Erkenntniß, ohne den vielfach verschlungenen Knäuel von
Erziehung, Zufall, Macht des Beispiels, Temperament, Gewohnheit,
Affecr, Krankheit, welcher den Anfangöknoten jenes verbrecherischen
Willens etwa bildete, lösen oder berücksichtigen zu können. So muß
auch die politische Moral nach bestimmten Gesetzen eine That ver--
urtheilen, den Thäter strafen. Traurig aber ist es, zu sehen, wie
nicht nur Mancher, dem es gelang, seine auf den gemeinsten Grün¬
den beruhende Apostasie unvermerkt zu bewerkstelligen, sondern auch
Der und Jener, dessen Charakter von lange her anrüchig ist und der
im Liberalismus speculirt, wie ein Anderer in Korn oder Metalli-
aues, jetzt als gleißender Pharisäer Entsetzen und Empörung über Din¬
gelstedt heuchelt, dessen Fehltritt ein großer, dessen Natur aber noch heute
hundertmal edler ist, als die jener Menschen. Wen es angeht, der wird mich
verstehen. Lieber vogelfrei, wie Dingelstedt, als ein Verfolger wie Jene!
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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/284>, abgerufen am 03.01.2025.
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