Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.versteht, ein Verhältniß einzugehen, das ihm nicht nur das fernere Wenn ich in den Windeln schon Fürst bin, wenn mir der aristo¬ Anders bei Dingelstedt. Ein Kind des neuen Bewußtseins Man wird Dingelstedt'S politischen Fehltritt in eine positive ?K5
versteht, ein Verhältniß einzugehen, das ihm nicht nur das fernere Wenn ich in den Windeln schon Fürst bin, wenn mir der aristo¬ Anders bei Dingelstedt. Ein Kind des neuen Bewußtseins Man wird Dingelstedt'S politischen Fehltritt in eine positive ?K5
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0279" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/179992"/> <p xml:id="ID_716" prev="#ID_715"> versteht, ein Verhältniß einzugehen, das ihm nicht nur das fernere<lb/> Lautwerden seiner Ueberzeugung verbietet, sondern ihn auch zwingt,<lb/> seine Lebensweise dem bekämpften Herkommen gemäß einzurichten:<lb/> ist dies möglich, ohne daß er sein geistiges Bedürfniß, sein besseres<lb/> Wissen verläugnet, gewonnene Erfahrungen im Stiche läßt? Hat<lb/> er sich nicht einem Cultus unterworfen, an den er nicht glaubt? Ge¬<lb/> stattet nicht jedes Ceremoniell, jede conventionelle Lüge, wozu er sich<lb/> bequemt, sich in ihm gleichzeitig zu einem Epigramm, das er ver¬<lb/> schluckt halten muß? Wird er nicht, wenn er sich in einer nachdenk¬<lb/> lichen Stunde spiegelt, über seine Maske erst lachen und dann er¬<lb/> schrecken müssen, weil er sie nie mehr ablegen kann? Dies ist<lb/> Dingelstedt.</p><lb/> <p xml:id="ID_717"> Wenn ich in den Windeln schon Fürst bin, wenn mir der aristo¬<lb/> kratische Sinn mit dem Blute in meinen Adern vererbt wurde, wenn<lb/> Erziehung und e'rclusive Gesellschaft, Lehre und Beispiel diesen Sinn<lb/> mit Sorgfalt entwickeln und grundsätzlich ausbilden, bis die Ge¬<lb/> wohnheiten sich zu Vorurtheil und Neigung, die Eindrücke sich zu<lb/> Mariner verhärtet haben, so mag man meine Gesinnungen und<lb/> Schritte anfeinden; aber es wäre sonderbar, wollte man mich für<lb/> das verantwortlich machen, was Geblüt, Beispiel, Erziehung an mir<lb/> gethan hätten. Ja man muß es sogar natürlich finden, wenn ich<lb/> mich in denjenigen Mechanismus von Nichtigkeiten einlasse, welcher<lb/> dem philosophischen Geist eine lästige Zeitverschwendung, doch für die<lb/> Sphäre, in der ich nun einmal lebe und gelte, eine Art, Religion, ja<lb/> mitunter selbst Lebensbedingung ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_718"> Anders bei Dingelstedt. Ein Kind des neuen Bewußtseins<lb/> hatte er keine Vorurtheile abzustreifen, sondern aufzusuchen, nicht klar zu<lb/> werden, sondern aufzuklären; er mußte dem Fortschritt ein Banner<lb/> tragen, denn er hatte keine Tradition, kein Privilegium, keine theure<lb/> Illusion zu vertheidigen.</p><lb/> <p xml:id="ID_719" next="#ID_720"> Man wird Dingelstedt'S politischen Fehltritt in eine positive<lb/> und in eine Unterlassungssünde eintheilen können. Nachdem er so<lb/> wohlgezielte, scharfe Bolzen geschossen, durste er sich nicht auf eine<lb/> Stellung einlassen, die mit seinen früheren Angriffen schlechthin un¬<lb/> verträglich scheint. Wer der kosmopolitische Nachtwächter gewesen,<lb/> kann seinem radikalen Menschen nicht ohne-Versündigung die silber-<lb/> bordirte ^-»ofrathsuniform anziehen. Dies war das positive Ver-</p><lb/> <fw place="bottom" type="sig"> ?K5</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0279]
versteht, ein Verhältniß einzugehen, das ihm nicht nur das fernere
Lautwerden seiner Ueberzeugung verbietet, sondern ihn auch zwingt,
seine Lebensweise dem bekämpften Herkommen gemäß einzurichten:
ist dies möglich, ohne daß er sein geistiges Bedürfniß, sein besseres
Wissen verläugnet, gewonnene Erfahrungen im Stiche läßt? Hat
er sich nicht einem Cultus unterworfen, an den er nicht glaubt? Ge¬
stattet nicht jedes Ceremoniell, jede conventionelle Lüge, wozu er sich
bequemt, sich in ihm gleichzeitig zu einem Epigramm, das er ver¬
schluckt halten muß? Wird er nicht, wenn er sich in einer nachdenk¬
lichen Stunde spiegelt, über seine Maske erst lachen und dann er¬
schrecken müssen, weil er sie nie mehr ablegen kann? Dies ist
Dingelstedt.
Wenn ich in den Windeln schon Fürst bin, wenn mir der aristo¬
kratische Sinn mit dem Blute in meinen Adern vererbt wurde, wenn
Erziehung und e'rclusive Gesellschaft, Lehre und Beispiel diesen Sinn
mit Sorgfalt entwickeln und grundsätzlich ausbilden, bis die Ge¬
wohnheiten sich zu Vorurtheil und Neigung, die Eindrücke sich zu
Mariner verhärtet haben, so mag man meine Gesinnungen und
Schritte anfeinden; aber es wäre sonderbar, wollte man mich für
das verantwortlich machen, was Geblüt, Beispiel, Erziehung an mir
gethan hätten. Ja man muß es sogar natürlich finden, wenn ich
mich in denjenigen Mechanismus von Nichtigkeiten einlasse, welcher
dem philosophischen Geist eine lästige Zeitverschwendung, doch für die
Sphäre, in der ich nun einmal lebe und gelte, eine Art, Religion, ja
mitunter selbst Lebensbedingung ist.
Anders bei Dingelstedt. Ein Kind des neuen Bewußtseins
hatte er keine Vorurtheile abzustreifen, sondern aufzusuchen, nicht klar zu
werden, sondern aufzuklären; er mußte dem Fortschritt ein Banner
tragen, denn er hatte keine Tradition, kein Privilegium, keine theure
Illusion zu vertheidigen.
Man wird Dingelstedt'S politischen Fehltritt in eine positive
und in eine Unterlassungssünde eintheilen können. Nachdem er so
wohlgezielte, scharfe Bolzen geschossen, durste er sich nicht auf eine
Stellung einlassen, die mit seinen früheren Angriffen schlechthin un¬
verträglich scheint. Wer der kosmopolitische Nachtwächter gewesen,
kann seinem radikalen Menschen nicht ohne-Versündigung die silber-
bordirte ^-»ofrathsuniform anziehen. Dies war das positive Ver-
?K5
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