Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

Bild:
<< vorherige Seite
Skizzen ans Berlin.
Won A- F.



ii.
Drei Schwestern.

Es gibt nicht leicht eine Stadt, die für den Fremden in der
ersten Zeit unheimlicher wäre, als Berlin. Um in Berlin seines Le¬
bens froh zu werden, muß man es erst lange kennen gelernt und sich
durch seine ersten Eindrücke hindurchgearbeitet haben, wie durch die
ersten langweiligen Kapitel eines interessanten Buchs. Besonders
wird sich der Kleinstädter, der seine Ansprüche an Gemüthlichkeit und
an freundliches Entgegenkommen mit hierher bringt, mehr als in je¬
dem andern Orte unangenehm berührt finden. Denn die sogenann¬
ten höhern, gebildetem, d. h. vermögenden Classen der Gesellschaft
verstehen es durchaus nicht, menschlich zu sein und zu leben, jeder
Einzelne umgibt sich da mit einer so steifen Glasur, die jede freie
Bewegung hemmen und jede Annäherung an ihn fast unmöglich
machen muß. Was ist z. B. natürlicher, als daß zwei Menschen,
wenn sie sich auch gegenseitig nicht kennen, bei irgend einer Begeg¬
nung mit einander zu sprechen anfangen? In Berlin ist es mehr
als auffallend, ja ein Verbrechen gegen Schicklichkeit und guten Ton,
mit einem Unbekannten oder Jemand, der Einem nicht in aller
Form vorgestellt ist, ein Gespräch anknüpfen zu wollen; man riskirt,
mit Verwunderung angesehen zu werden und kurze, höhnische Ant¬
worten zu erhalten. Zwei Leute können in einem öffentlichen Local


EirenjbotlnI. 31
Skizzen ans Berlin.
Won A- F.



ii.
Drei Schwestern.

Es gibt nicht leicht eine Stadt, die für den Fremden in der
ersten Zeit unheimlicher wäre, als Berlin. Um in Berlin seines Le¬
bens froh zu werden, muß man es erst lange kennen gelernt und sich
durch seine ersten Eindrücke hindurchgearbeitet haben, wie durch die
ersten langweiligen Kapitel eines interessanten Buchs. Besonders
wird sich der Kleinstädter, der seine Ansprüche an Gemüthlichkeit und
an freundliches Entgegenkommen mit hierher bringt, mehr als in je¬
dem andern Orte unangenehm berührt finden. Denn die sogenann¬
ten höhern, gebildetem, d. h. vermögenden Classen der Gesellschaft
verstehen es durchaus nicht, menschlich zu sein und zu leben, jeder
Einzelne umgibt sich da mit einer so steifen Glasur, die jede freie
Bewegung hemmen und jede Annäherung an ihn fast unmöglich
machen muß. Was ist z. B. natürlicher, als daß zwei Menschen,
wenn sie sich auch gegenseitig nicht kennen, bei irgend einer Begeg¬
nung mit einander zu sprechen anfangen? In Berlin ist es mehr
als auffallend, ja ein Verbrechen gegen Schicklichkeit und guten Ton,
mit einem Unbekannten oder Jemand, der Einem nicht in aller
Form vorgestellt ist, ein Gespräch anknüpfen zu wollen; man riskirt,
mit Verwunderung angesehen zu werden und kurze, höhnische Ant¬
worten zu erhalten. Zwei Leute können in einem öffentlichen Local


EirenjbotlnI. 31
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0237" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/179950"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Skizzen ans Berlin.<lb/><note type="byline"> Won A- F.</note></head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="2">
            <head> ii.<lb/>
Drei Schwestern.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_612" next="#ID_613"> Es gibt nicht leicht eine Stadt, die für den Fremden in der<lb/>
ersten Zeit unheimlicher wäre, als Berlin. Um in Berlin seines Le¬<lb/>
bens froh zu werden, muß man es erst lange kennen gelernt und sich<lb/>
durch seine ersten Eindrücke hindurchgearbeitet haben, wie durch die<lb/>
ersten langweiligen Kapitel eines interessanten Buchs. Besonders<lb/>
wird sich der Kleinstädter, der seine Ansprüche an Gemüthlichkeit und<lb/>
an freundliches Entgegenkommen mit hierher bringt, mehr als in je¬<lb/>
dem andern Orte unangenehm berührt finden. Denn die sogenann¬<lb/>
ten höhern, gebildetem, d. h. vermögenden Classen der Gesellschaft<lb/>
verstehen es durchaus nicht, menschlich zu sein und zu leben, jeder<lb/>
Einzelne umgibt sich da mit einer so steifen Glasur, die jede freie<lb/>
Bewegung hemmen und jede Annäherung an ihn fast unmöglich<lb/>
machen muß. Was ist z. B. natürlicher, als daß zwei Menschen,<lb/>
wenn sie sich auch gegenseitig nicht kennen, bei irgend einer Begeg¬<lb/>
nung mit einander zu sprechen anfangen? In Berlin ist es mehr<lb/>
als auffallend, ja ein Verbrechen gegen Schicklichkeit und guten Ton,<lb/>
mit einem Unbekannten oder Jemand, der Einem nicht in aller<lb/>
Form vorgestellt ist, ein Gespräch anknüpfen zu wollen; man riskirt,<lb/>
mit Verwunderung angesehen zu werden und kurze, höhnische Ant¬<lb/>
worten zu erhalten. Zwei Leute können in einem öffentlichen Local</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig"> EirenjbotlnI. 31</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0237] Skizzen ans Berlin. Won A- F. ii. Drei Schwestern. Es gibt nicht leicht eine Stadt, die für den Fremden in der ersten Zeit unheimlicher wäre, als Berlin. Um in Berlin seines Le¬ bens froh zu werden, muß man es erst lange kennen gelernt und sich durch seine ersten Eindrücke hindurchgearbeitet haben, wie durch die ersten langweiligen Kapitel eines interessanten Buchs. Besonders wird sich der Kleinstädter, der seine Ansprüche an Gemüthlichkeit und an freundliches Entgegenkommen mit hierher bringt, mehr als in je¬ dem andern Orte unangenehm berührt finden. Denn die sogenann¬ ten höhern, gebildetem, d. h. vermögenden Classen der Gesellschaft verstehen es durchaus nicht, menschlich zu sein und zu leben, jeder Einzelne umgibt sich da mit einer so steifen Glasur, die jede freie Bewegung hemmen und jede Annäherung an ihn fast unmöglich machen muß. Was ist z. B. natürlicher, als daß zwei Menschen, wenn sie sich auch gegenseitig nicht kennen, bei irgend einer Begeg¬ nung mit einander zu sprechen anfangen? In Berlin ist es mehr als auffallend, ja ein Verbrechen gegen Schicklichkeit und guten Ton, mit einem Unbekannten oder Jemand, der Einem nicht in aller Form vorgestellt ist, ein Gespräch anknüpfen zu wollen; man riskirt, mit Verwunderung angesehen zu werden und kurze, höhnische Ant¬ worten zu erhalten. Zwei Leute können in einem öffentlichen Local EirenjbotlnI. 31

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/237
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/237>, abgerufen am 22.12.2024.