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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Wozu also all' dieser Aufwand, da die ganzen vier Acte zum fünf,
ten gar nicht nöthig sind, mit der Katastrophe, wenn man die letzten
Scenen dann noch so nennen kann, in gar keiner Verbindung stehn?
-- Meint also das Parterre, daß in dieser Hinsicht an dem Stücke
viel zu viel sei, stimmen wir wohl ganz und gar überein; betrachten
wir es aber als historische Tragödie, so müssen wir gestehen, daß
wir hier noch sehr Vieles vermissen. Wir vermissen z. B. in dieser
historischen Tragödie die Geschi es t e. Der größte Held mit seiner
nächsten Umgebung macht noch nicht Geschichte; es muß seine Zeit, es
muß sein Volk hinzukommen. Wo spüren wir in dieser Tragödie den
Schritt der Zeit, in welchen Personen ist das Volk repräsentirt? Doch
nicht in den Patrioten, die alle einander gleichen, wie abgegriffene
Münzen desselben Werthes, wie blöde Gesichter, die alle Eine Aus-
druckslosigkeit haben. Es müßten Nebenpersonen, d.i. Charaktere hin¬
zukommen, Episoden, die aus der Zeit hervorgehen und charakteristisch
sind; Charaktere, Episoden wie in Shakspeare, in Götz und Egmcnt,
in Fiesco und Faliero. -- Mit diesem Mangel wäre zugleich ein
zweiter gehoben worden: die Armuth der Handlung, die Ursache ist,
daß der Dichter Dinge einwebte, die zum Ganzen gar nicht gehören
und als etwas ganz Fremdartiges sich selbst ausscheiden und stören;
daß er Effecte anbrachte, die dem Haupteffect völlig heterogen sind.

Neben den erwähnten Fehlern dieses Dramas scheint uns jener
der NichtSbedeutcnheit, der gänzlichen Vernachlässigung aller Neben¬
personen der bedeutendste. -- Man sieht es diesen an, sie sind nur
der zum Zusammenhange, zur Ausfüllung der Lücken nöthige prosai¬
sche Kitt; sie stehen da wie Decorationen, sie gehen und kommen wie
abgerichtete Statisten oder wie Maschinen, kurz machen den Eindruck
belebter Golems. Selbst die Brüder Vanina's, die doch eine Rolle
spielen, sind unheimlich wie zwei Doppelgänger. -- Ornone, von dem
das ganze Unglück ausgeht, ist ein abgebrauchter, gemeiner Bösewicht,
der nach dem zweiten Acte verschwindet, ohne daß man weiter etwas
von ihm erfährt. -- Wie viel schöner wäre es gewesen, wenn die
Tragödie sich wie eine dunkel umhüllte Rome aus dem Gewebe der
Verhältnisse, die unser Fatum ausmachen, erhoben hätte, als daß sie,
ein giftiges Unkraut, aus dem Sumpfe Ornone emporwächst.

Fassen wir das Gesagte in wenigen Worten zusammen, so stel¬
len sich folgende Hauptmangel als Todeskcinic heraus: I) Sampiero


Ärcnzboten I, M

Wozu also all' dieser Aufwand, da die ganzen vier Acte zum fünf,
ten gar nicht nöthig sind, mit der Katastrophe, wenn man die letzten
Scenen dann noch so nennen kann, in gar keiner Verbindung stehn?
— Meint also das Parterre, daß in dieser Hinsicht an dem Stücke
viel zu viel sei, stimmen wir wohl ganz und gar überein; betrachten
wir es aber als historische Tragödie, so müssen wir gestehen, daß
wir hier noch sehr Vieles vermissen. Wir vermissen z. B. in dieser
historischen Tragödie die Geschi es t e. Der größte Held mit seiner
nächsten Umgebung macht noch nicht Geschichte; es muß seine Zeit, es
muß sein Volk hinzukommen. Wo spüren wir in dieser Tragödie den
Schritt der Zeit, in welchen Personen ist das Volk repräsentirt? Doch
nicht in den Patrioten, die alle einander gleichen, wie abgegriffene
Münzen desselben Werthes, wie blöde Gesichter, die alle Eine Aus-
druckslosigkeit haben. Es müßten Nebenpersonen, d.i. Charaktere hin¬
zukommen, Episoden, die aus der Zeit hervorgehen und charakteristisch
sind; Charaktere, Episoden wie in Shakspeare, in Götz und Egmcnt,
in Fiesco und Faliero. — Mit diesem Mangel wäre zugleich ein
zweiter gehoben worden: die Armuth der Handlung, die Ursache ist,
daß der Dichter Dinge einwebte, die zum Ganzen gar nicht gehören
und als etwas ganz Fremdartiges sich selbst ausscheiden und stören;
daß er Effecte anbrachte, die dem Haupteffect völlig heterogen sind.

Neben den erwähnten Fehlern dieses Dramas scheint uns jener
der NichtSbedeutcnheit, der gänzlichen Vernachlässigung aller Neben¬
personen der bedeutendste. — Man sieht es diesen an, sie sind nur
der zum Zusammenhange, zur Ausfüllung der Lücken nöthige prosai¬
sche Kitt; sie stehen da wie Decorationen, sie gehen und kommen wie
abgerichtete Statisten oder wie Maschinen, kurz machen den Eindruck
belebter Golems. Selbst die Brüder Vanina's, die doch eine Rolle
spielen, sind unheimlich wie zwei Doppelgänger. — Ornone, von dem
das ganze Unglück ausgeht, ist ein abgebrauchter, gemeiner Bösewicht,
der nach dem zweiten Acte verschwindet, ohne daß man weiter etwas
von ihm erfährt. — Wie viel schöner wäre es gewesen, wenn die
Tragödie sich wie eine dunkel umhüllte Rome aus dem Gewebe der
Verhältnisse, die unser Fatum ausmachen, erhoben hätte, als daß sie,
ein giftiges Unkraut, aus dem Sumpfe Ornone emporwächst.

Fassen wir das Gesagte in wenigen Worten zusammen, so stel¬
len sich folgende Hauptmangel als Todeskcinic heraus: I) Sampiero


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[0201] Wozu also all' dieser Aufwand, da die ganzen vier Acte zum fünf, ten gar nicht nöthig sind, mit der Katastrophe, wenn man die letzten Scenen dann noch so nennen kann, in gar keiner Verbindung stehn? — Meint also das Parterre, daß in dieser Hinsicht an dem Stücke viel zu viel sei, stimmen wir wohl ganz und gar überein; betrachten wir es aber als historische Tragödie, so müssen wir gestehen, daß wir hier noch sehr Vieles vermissen. Wir vermissen z. B. in dieser historischen Tragödie die Geschi es t e. Der größte Held mit seiner nächsten Umgebung macht noch nicht Geschichte; es muß seine Zeit, es muß sein Volk hinzukommen. Wo spüren wir in dieser Tragödie den Schritt der Zeit, in welchen Personen ist das Volk repräsentirt? Doch nicht in den Patrioten, die alle einander gleichen, wie abgegriffene Münzen desselben Werthes, wie blöde Gesichter, die alle Eine Aus- druckslosigkeit haben. Es müßten Nebenpersonen, d.i. Charaktere hin¬ zukommen, Episoden, die aus der Zeit hervorgehen und charakteristisch sind; Charaktere, Episoden wie in Shakspeare, in Götz und Egmcnt, in Fiesco und Faliero. — Mit diesem Mangel wäre zugleich ein zweiter gehoben worden: die Armuth der Handlung, die Ursache ist, daß der Dichter Dinge einwebte, die zum Ganzen gar nicht gehören und als etwas ganz Fremdartiges sich selbst ausscheiden und stören; daß er Effecte anbrachte, die dem Haupteffect völlig heterogen sind. Neben den erwähnten Fehlern dieses Dramas scheint uns jener der NichtSbedeutcnheit, der gänzlichen Vernachlässigung aller Neben¬ personen der bedeutendste. — Man sieht es diesen an, sie sind nur der zum Zusammenhange, zur Ausfüllung der Lücken nöthige prosai¬ sche Kitt; sie stehen da wie Decorationen, sie gehen und kommen wie abgerichtete Statisten oder wie Maschinen, kurz machen den Eindruck belebter Golems. Selbst die Brüder Vanina's, die doch eine Rolle spielen, sind unheimlich wie zwei Doppelgänger. — Ornone, von dem das ganze Unglück ausgeht, ist ein abgebrauchter, gemeiner Bösewicht, der nach dem zweiten Acte verschwindet, ohne daß man weiter etwas von ihm erfährt. — Wie viel schöner wäre es gewesen, wenn die Tragödie sich wie eine dunkel umhüllte Rome aus dem Gewebe der Verhältnisse, die unser Fatum ausmachen, erhoben hätte, als daß sie, ein giftiges Unkraut, aus dem Sumpfe Ornone emporwächst. Fassen wir das Gesagte in wenigen Worten zusammen, so stel¬ len sich folgende Hauptmangel als Todeskcinic heraus: I) Sampiero Ärcnzboten I, M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/201>, abgerufen am 22.12.2024.