ein Prahlhans; mit der Zunge führt es hochästhctische Reden, in sei¬ nem Herzen aber hat eS eine rohe Lust; in seinen kritischen Koch¬ büchern ist es ein Gourmand, dem nur das Feinste behagt, in Wirk¬ lichkeit aber hat es den Magen eines Taglöhners, dem das Massen¬ hafte lieber ist, als die Delicatesse. Der arme deutsche Dichter! Hält er sich an daS Kochbuch, so schreien sie über Hunger; stillt er ihren rohen Appetit, halten sie ihm das Kochrecept entgegen. Der fran¬ zösische Dichter hat vie Wahl; ist sein Talent grobkörnig, wendet er sich an die Vorstadt, an das Volk; ist es aus feineren Gewebe, wen¬ det er sich der Bildung, der Elite zu. Der deutsche Dichter wird in eine und dieselbe Löwengrube geworfen; wenn der eine Löwe ihn verschont, frißt ihn der andere auf.
Vielleicht findet sich mancher Leser beleidigt, daß wir daS deutsche Theatcrpublicum in Logen und Sperrsitzen nicht höher als das eines Pariser Vorstadtpublicumö schätzen. Und doch müssen wir noch einen Schritt weiter gehen und sagen, es ist unartiger und ungeduldiger als dieses. Das Pariser Publicum selbst des letzten Ranges hört den Dichter ruhig bis zu seinem letzten Worte an. DaS Schlußcou¬ plet im Vaudeville, die Schlußmoral im Drama oder im Lustspiele findet dieselbe Aufmerksamkeit wie die erste Scene der ErPosition. Das deutsche Publicum erhebt sich, sobald die Katastrophe eingetreten ist; sobald seine rohe Neugier befriedigt wurde und es den Schluß deS Märchens weiß, bricht es auf wie eine Truppe ungezogener Schü¬ ler, die die Glocke, welche daS Ende der Schulstunde anzeigt, läuten hört. Was der Dichter noch auf dem Herzen, was er als K,,- Kulm lZocvt noch zu sagen und zu erläutern hat', die Blüthe seiner Gedanken, die Seele seiner Dichtung, das will man nicht mehr hö¬ ren. Diesem philosophischen deutschen Publicum, diesem Volk der Denker muß man den Vorhang fallen lassen, sobald der Hans die Grete bekommen hat, sobald der Geßler todt am Boden liegt. Daß der Dichter noch einer Scene bedarf, um den Tod der Stuart an der Elisabeth zu rächen, um den Mord Geßlers zu mildern, für dies Alles hat dieses Volk der Denker keine Zeit mehr. Und nicht blos etwa den Schauspiel, selbst in der Oper, wo doch die Handlung eine so untergeordnete Rolle spielt, muß man den Vorhang senken, nach¬ dem der große Block der Hauptaction gefallen ist. Für dieses Volk der Denker muß man die letzte großartige Scene im Don Juan, wo
ein Prahlhans; mit der Zunge führt es hochästhctische Reden, in sei¬ nem Herzen aber hat eS eine rohe Lust; in seinen kritischen Koch¬ büchern ist es ein Gourmand, dem nur das Feinste behagt, in Wirk¬ lichkeit aber hat es den Magen eines Taglöhners, dem das Massen¬ hafte lieber ist, als die Delicatesse. Der arme deutsche Dichter! Hält er sich an daS Kochbuch, so schreien sie über Hunger; stillt er ihren rohen Appetit, halten sie ihm das Kochrecept entgegen. Der fran¬ zösische Dichter hat vie Wahl; ist sein Talent grobkörnig, wendet er sich an die Vorstadt, an das Volk; ist es aus feineren Gewebe, wen¬ det er sich der Bildung, der Elite zu. Der deutsche Dichter wird in eine und dieselbe Löwengrube geworfen; wenn der eine Löwe ihn verschont, frißt ihn der andere auf.
Vielleicht findet sich mancher Leser beleidigt, daß wir daS deutsche Theatcrpublicum in Logen und Sperrsitzen nicht höher als das eines Pariser Vorstadtpublicumö schätzen. Und doch müssen wir noch einen Schritt weiter gehen und sagen, es ist unartiger und ungeduldiger als dieses. Das Pariser Publicum selbst des letzten Ranges hört den Dichter ruhig bis zu seinem letzten Worte an. DaS Schlußcou¬ plet im Vaudeville, die Schlußmoral im Drama oder im Lustspiele findet dieselbe Aufmerksamkeit wie die erste Scene der ErPosition. Das deutsche Publicum erhebt sich, sobald die Katastrophe eingetreten ist; sobald seine rohe Neugier befriedigt wurde und es den Schluß deS Märchens weiß, bricht es auf wie eine Truppe ungezogener Schü¬ ler, die die Glocke, welche daS Ende der Schulstunde anzeigt, läuten hört. Was der Dichter noch auf dem Herzen, was er als K,,- Kulm lZocvt noch zu sagen und zu erläutern hat', die Blüthe seiner Gedanken, die Seele seiner Dichtung, das will man nicht mehr hö¬ ren. Diesem philosophischen deutschen Publicum, diesem Volk der Denker muß man den Vorhang fallen lassen, sobald der Hans die Grete bekommen hat, sobald der Geßler todt am Boden liegt. Daß der Dichter noch einer Scene bedarf, um den Tod der Stuart an der Elisabeth zu rächen, um den Mord Geßlers zu mildern, für dies Alles hat dieses Volk der Denker keine Zeit mehr. Und nicht blos etwa den Schauspiel, selbst in der Oper, wo doch die Handlung eine so untergeordnete Rolle spielt, muß man den Vorhang senken, nach¬ dem der große Block der Hauptaction gefallen ist. Für dieses Volk der Denker muß man die letzte großartige Scene im Don Juan, wo
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büchern ist es ein Gourmand, dem nur das Feinste behagt, in Wirk¬
lichkeit aber hat es den Magen eines Taglöhners, dem das Massen¬
hafte lieber ist, als die Delicatesse. Der arme deutsche Dichter! Hält
er sich an daS Kochbuch, so schreien sie über Hunger; stillt er ihren
rohen Appetit, halten sie ihm das Kochrecept entgegen. Der fran¬
zösische Dichter hat vie Wahl; ist sein Talent grobkörnig, wendet er
sich an die Vorstadt, an das Volk; ist es aus feineren Gewebe, wen¬
det er sich der Bildung, der Elite zu. Der deutsche Dichter wird in
eine und dieselbe Löwengrube geworfen; wenn der eine Löwe ihn
verschont, frißt ihn der andere auf.
Vielleicht findet sich mancher Leser beleidigt, daß wir daS deutsche
Theatcrpublicum in Logen und Sperrsitzen nicht höher als das eines
Pariser Vorstadtpublicumö schätzen. Und doch müssen wir noch einen
Schritt weiter gehen und sagen, es ist unartiger und ungeduldiger
als dieses. Das Pariser Publicum selbst des letzten Ranges hört
den Dichter ruhig bis zu seinem letzten Worte an. DaS Schlußcou¬
plet im Vaudeville, die Schlußmoral im Drama oder im Lustspiele
findet dieselbe Aufmerksamkeit wie die erste Scene der ErPosition.
Das deutsche Publicum erhebt sich, sobald die Katastrophe eingetreten
ist; sobald seine rohe Neugier befriedigt wurde und es den Schluß
deS Märchens weiß, bricht es auf wie eine Truppe ungezogener Schü¬
ler, die die Glocke, welche daS Ende der Schulstunde anzeigt, läuten
hört. Was der Dichter noch auf dem Herzen, was er als K,,-
Kulm lZocvt noch zu sagen und zu erläutern hat', die Blüthe seiner
Gedanken, die Seele seiner Dichtung, das will man nicht mehr hö¬
ren. Diesem philosophischen deutschen Publicum, diesem Volk der
Denker muß man den Vorhang fallen lassen, sobald der Hans die
Grete bekommen hat, sobald der Geßler todt am Boden liegt. Daß
der Dichter noch einer Scene bedarf, um den Tod der Stuart an
der Elisabeth zu rächen, um den Mord Geßlers zu mildern, für dies
Alles hat dieses Volk der Denker keine Zeit mehr. Und nicht blos
etwa den Schauspiel, selbst in der Oper, wo doch die Handlung eine
so untergeordnete Rolle spielt, muß man den Vorhang senken, nach¬
dem der große Block der Hauptaction gefallen ist. Für dieses Volk
der Denker muß man die letzte großartige Scene im Don Juan, wo
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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/166>, abgerufen am 22.12.2024.
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