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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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sei uns eine Mahnung! Die Sophokleische Tragödie ist in ihrer Weise
und ganz in den Nationalbedingungen der alten Zeit, in Entfaltung
der Fabel, in Führung des Fadens, in Vermittelung und Lösung des
sachlichen und geistigen Gehaltes ein Meisterstück naiver Kunst. Die
fesselnde Kraft der Erwartung, diese Macht der Spannung, diese
sittliche und geistige Aufregung deS ganzen Menschen, der hier, im
Streite göttlicher und irdischer Anregung, der Schlichtung wie einer
Entscheidung über sich selbst entgegenharrt: das sind Theatereffecte
in classischer Form, es sind die Mittel, die das dramatische Gedicht
erst zum wirklichen Drama und ohne Weiteres zum bühnenwirksamen
Theaterstück machen. Von gemeinen Hebeln zur Aufreizung der Ner¬
ven wird bei Sophokles wohl nicht die Rede sein dürfen, und doch
erreicht er die höchste Wirkung auf den Brettern, so weit die be"
schränkte Welt der Alten eine Wirkung für uns zulässig macht. So¬
phokles ist so naiv und bornirt wie Hans Sachs. Aber er ist ein
Meister in Handhabung der Intrigue seines Stoffes. Ich nenne
ohne Scheu Intrigue, was man bei den Alten gern die Fabel des
Stückes mit der Dialektik ihrer Entfaltung hieß.

Ist nun das Wort Intrigue vor Ihnen gerechtfertigt? Ich weiß
kein anderes.

Welch ein Jdeologe zugleich Hebbel ist, beweist er wohl recht
eigentlich mit dem, was er über Gutzkow's Dramen äußert. Hebbel
verlangt, daß das Drama nicht blos mit den einzelnen Charakteren,
sondern auch als Totalität wirke. Diese Totalität liegt aber für ihn
nicht in der Sache, nicht im Verlaufe des Stoffes, sondern in der
Idee, die ich daraus abstrahire. Er sagt, Gutzkow habe das sociale
Thema aufgenommen. Vier seiner Stücke, die gedruckt vorliegen,
seien Correlate, die in ihrer Gesammtheit mehr als einzeln befriedig¬
ten. Richard Savage zeige, was eine Galanterie bedeute, offenbare
in scharfen Gegensätzen den tragischen Kampf zwischen Naturgefühl
und Decorum. Je gMusamer, sagt Hebbel, desto besser. -- Kann
ein Poet thörichter sprechen? Also je schiefer die Annahme im Ver¬
halten von Menschen zu einander, je unwahrer die Stellung der Fi¬
guren gegen einander, desto besser? Und kann eine Dichtung mit dem,
was sie bedeutet, was sie will, je täuschen über das, was sie sachlich
gibt, wirklich und stofflich vorführt? Von abstrakten Philosophen ist
man gewohnt, daß sie sich mit dem begnügen, was sich aus dem


sei uns eine Mahnung! Die Sophokleische Tragödie ist in ihrer Weise
und ganz in den Nationalbedingungen der alten Zeit, in Entfaltung
der Fabel, in Führung des Fadens, in Vermittelung und Lösung des
sachlichen und geistigen Gehaltes ein Meisterstück naiver Kunst. Die
fesselnde Kraft der Erwartung, diese Macht der Spannung, diese
sittliche und geistige Aufregung deS ganzen Menschen, der hier, im
Streite göttlicher und irdischer Anregung, der Schlichtung wie einer
Entscheidung über sich selbst entgegenharrt: das sind Theatereffecte
in classischer Form, es sind die Mittel, die das dramatische Gedicht
erst zum wirklichen Drama und ohne Weiteres zum bühnenwirksamen
Theaterstück machen. Von gemeinen Hebeln zur Aufreizung der Ner¬
ven wird bei Sophokles wohl nicht die Rede sein dürfen, und doch
erreicht er die höchste Wirkung auf den Brettern, so weit die be»
schränkte Welt der Alten eine Wirkung für uns zulässig macht. So¬
phokles ist so naiv und bornirt wie Hans Sachs. Aber er ist ein
Meister in Handhabung der Intrigue seines Stoffes. Ich nenne
ohne Scheu Intrigue, was man bei den Alten gern die Fabel des
Stückes mit der Dialektik ihrer Entfaltung hieß.

Ist nun das Wort Intrigue vor Ihnen gerechtfertigt? Ich weiß
kein anderes.

Welch ein Jdeologe zugleich Hebbel ist, beweist er wohl recht
eigentlich mit dem, was er über Gutzkow's Dramen äußert. Hebbel
verlangt, daß das Drama nicht blos mit den einzelnen Charakteren,
sondern auch als Totalität wirke. Diese Totalität liegt aber für ihn
nicht in der Sache, nicht im Verlaufe des Stoffes, sondern in der
Idee, die ich daraus abstrahire. Er sagt, Gutzkow habe das sociale
Thema aufgenommen. Vier seiner Stücke, die gedruckt vorliegen,
seien Correlate, die in ihrer Gesammtheit mehr als einzeln befriedig¬
ten. Richard Savage zeige, was eine Galanterie bedeute, offenbare
in scharfen Gegensätzen den tragischen Kampf zwischen Naturgefühl
und Decorum. Je gMusamer, sagt Hebbel, desto besser. — Kann
ein Poet thörichter sprechen? Also je schiefer die Annahme im Ver¬
halten von Menschen zu einander, je unwahrer die Stellung der Fi¬
guren gegen einander, desto besser? Und kann eine Dichtung mit dem,
was sie bedeutet, was sie will, je täuschen über das, was sie sachlich
gibt, wirklich und stofflich vorführt? Von abstrakten Philosophen ist
man gewohnt, daß sie sich mit dem begnügen, was sich aus dem


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[0126] sei uns eine Mahnung! Die Sophokleische Tragödie ist in ihrer Weise und ganz in den Nationalbedingungen der alten Zeit, in Entfaltung der Fabel, in Führung des Fadens, in Vermittelung und Lösung des sachlichen und geistigen Gehaltes ein Meisterstück naiver Kunst. Die fesselnde Kraft der Erwartung, diese Macht der Spannung, diese sittliche und geistige Aufregung deS ganzen Menschen, der hier, im Streite göttlicher und irdischer Anregung, der Schlichtung wie einer Entscheidung über sich selbst entgegenharrt: das sind Theatereffecte in classischer Form, es sind die Mittel, die das dramatische Gedicht erst zum wirklichen Drama und ohne Weiteres zum bühnenwirksamen Theaterstück machen. Von gemeinen Hebeln zur Aufreizung der Ner¬ ven wird bei Sophokles wohl nicht die Rede sein dürfen, und doch erreicht er die höchste Wirkung auf den Brettern, so weit die be» schränkte Welt der Alten eine Wirkung für uns zulässig macht. So¬ phokles ist so naiv und bornirt wie Hans Sachs. Aber er ist ein Meister in Handhabung der Intrigue seines Stoffes. Ich nenne ohne Scheu Intrigue, was man bei den Alten gern die Fabel des Stückes mit der Dialektik ihrer Entfaltung hieß. Ist nun das Wort Intrigue vor Ihnen gerechtfertigt? Ich weiß kein anderes. Welch ein Jdeologe zugleich Hebbel ist, beweist er wohl recht eigentlich mit dem, was er über Gutzkow's Dramen äußert. Hebbel verlangt, daß das Drama nicht blos mit den einzelnen Charakteren, sondern auch als Totalität wirke. Diese Totalität liegt aber für ihn nicht in der Sache, nicht im Verlaufe des Stoffes, sondern in der Idee, die ich daraus abstrahire. Er sagt, Gutzkow habe das sociale Thema aufgenommen. Vier seiner Stücke, die gedruckt vorliegen, seien Correlate, die in ihrer Gesammtheit mehr als einzeln befriedig¬ ten. Richard Savage zeige, was eine Galanterie bedeute, offenbare in scharfen Gegensätzen den tragischen Kampf zwischen Naturgefühl und Decorum. Je gMusamer, sagt Hebbel, desto besser. — Kann ein Poet thörichter sprechen? Also je schiefer die Annahme im Ver¬ halten von Menschen zu einander, je unwahrer die Stellung der Fi¬ guren gegen einander, desto besser? Und kann eine Dichtung mit dem, was sie bedeutet, was sie will, je täuschen über das, was sie sachlich gibt, wirklich und stofflich vorführt? Von abstrakten Philosophen ist man gewohnt, daß sie sich mit dem begnügen, was sich aus dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/126>, abgerufen am 23.12.2024.