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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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versuchen, während der deutsche Geist, vollkräftiger und.unverletzt, aus
der Sturm- und Drangperiode des vorigen Jahrhunderts, woraus Faust
hervorschießt, sich immer tiefer und glücklicher in den Gedanken einlebt,
und sich ein wissenschaftliches Dasein gründet, in welchem er keineswegs
dem Handeln entfremdet wird, sondern vielmehr die gesammelte Energie
überallhin zu verbreiten sich rüstet. Unser Vaterland ist weit entfernt, sich
in den Götheschen Quietismus zu versenken. Der zweite Faust findet
bei Gervinus keinen sonderlichen Beifall; er ist allegorisirend, das Pro¬
dukt des Alters. Hier indeß dürfen wir wohl von der sinnlichen Kunst¬
gestalt absehen, um auch den Grundgedanken, die Seele des Werkes,
für sich ins Auge zu fassen. Wir finden, daß Faust im höhern Alter
ans thätige Leben schreitet, aber auch darin immer weiter und weiter
getrieben. Allein das letzte Ziel, mag es auch dem der Erde entsterbcnden
Faust so erscheinen, liegt auch nicht in dieser That, und dem Herr-
schastsgefühl, das sie gewährt. Die Liebe, die menschliche sowohl als
die göttliche, geht darüber hinaus; sie übertrifft die strebende Welt mit
all ihren Gütern und all ihrem Erwerb. Hier, auf dem Schlußsteine
seiner Kunst, hat Göthe die poetische Wahrheit mit der sittlichen und re¬
ligiösen in Einklang erkannt, und ich glaube, daß seine Idee von den
Forderungen des praktischen Verstandes nicht zu erschüttern ist. Immer
ist der zweite Faust nur Symbol, nicht Kunstwirklichkeit, weil Göthe
darin uur schaut und deutet, was im Volke, von dem er nur ein Stück
und einen Moment vorstellt, sich schon zur vollen Wahrheit hinauszuar¬
beiten anfing. Um der Nation ganz zu entsprechen, hätte Faust das
Wissen wiedergewinnen und den unruhigen Genuß der Welt gegen den
Geist der Weihe ,und Liebe eintauschen sollen, wie das alles unser
Volk, durch Schiller, aber nicht durch ihn allein, gethan hat. Durch
die Faustdichtung hat Göthe eine ganze Gattung begründet: das Indivi¬
duum als Träger und Erleber der Menschheit, -- die höchste Stufe der
Fülle und Freiheit. Der Fauste sind offenbar viele denkbar; wenn irgend¬
wo, so müssen daran die partiellen und dienenden Producenten und Kri¬
tiker-verunglücken. Vielleicht ist die Geschichte selbst unser wahre und
rechte Faust, und es käme nur darauf an, die Punkte zu finden, wo
die Geschichte als Ganze in einem Individuum wirkt. Ost hat man,
von dem Gegensätzlichen im Faust ausgehend, zum Ahasverus gegriffen,
und auch Gervinus deutet an mehren Stellen darauf hin, als einen
Vorwurf, woraus sich eine Philosophie der Geschichte entwickle. Die
Schwere, der Werth dieses Stoffes ist nicht in Abrede zu stellen. Je-"


versuchen, während der deutsche Geist, vollkräftiger und.unverletzt, aus
der Sturm- und Drangperiode des vorigen Jahrhunderts, woraus Faust
hervorschießt, sich immer tiefer und glücklicher in den Gedanken einlebt,
und sich ein wissenschaftliches Dasein gründet, in welchem er keineswegs
dem Handeln entfremdet wird, sondern vielmehr die gesammelte Energie
überallhin zu verbreiten sich rüstet. Unser Vaterland ist weit entfernt, sich
in den Götheschen Quietismus zu versenken. Der zweite Faust findet
bei Gervinus keinen sonderlichen Beifall; er ist allegorisirend, das Pro¬
dukt des Alters. Hier indeß dürfen wir wohl von der sinnlichen Kunst¬
gestalt absehen, um auch den Grundgedanken, die Seele des Werkes,
für sich ins Auge zu fassen. Wir finden, daß Faust im höhern Alter
ans thätige Leben schreitet, aber auch darin immer weiter und weiter
getrieben. Allein das letzte Ziel, mag es auch dem der Erde entsterbcnden
Faust so erscheinen, liegt auch nicht in dieser That, und dem Herr-
schastsgefühl, das sie gewährt. Die Liebe, die menschliche sowohl als
die göttliche, geht darüber hinaus; sie übertrifft die strebende Welt mit
all ihren Gütern und all ihrem Erwerb. Hier, auf dem Schlußsteine
seiner Kunst, hat Göthe die poetische Wahrheit mit der sittlichen und re¬
ligiösen in Einklang erkannt, und ich glaube, daß seine Idee von den
Forderungen des praktischen Verstandes nicht zu erschüttern ist. Immer
ist der zweite Faust nur Symbol, nicht Kunstwirklichkeit, weil Göthe
darin uur schaut und deutet, was im Volke, von dem er nur ein Stück
und einen Moment vorstellt, sich schon zur vollen Wahrheit hinauszuar¬
beiten anfing. Um der Nation ganz zu entsprechen, hätte Faust das
Wissen wiedergewinnen und den unruhigen Genuß der Welt gegen den
Geist der Weihe ,und Liebe eintauschen sollen, wie das alles unser
Volk, durch Schiller, aber nicht durch ihn allein, gethan hat. Durch
die Faustdichtung hat Göthe eine ganze Gattung begründet: das Indivi¬
duum als Träger und Erleber der Menschheit, — die höchste Stufe der
Fülle und Freiheit. Der Fauste sind offenbar viele denkbar; wenn irgend¬
wo, so müssen daran die partiellen und dienenden Producenten und Kri¬
tiker-verunglücken. Vielleicht ist die Geschichte selbst unser wahre und
rechte Faust, und es käme nur darauf an, die Punkte zu finden, wo
die Geschichte als Ganze in einem Individuum wirkt. Ost hat man,
von dem Gegensätzlichen im Faust ausgehend, zum Ahasverus gegriffen,
und auch Gervinus deutet an mehren Stellen darauf hin, als einen
Vorwurf, woraus sich eine Philosophie der Geschichte entwickle. Die
Schwere, der Werth dieses Stoffes ist nicht in Abrede zu stellen. Je-„


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/98>, abgerufen am 23.07.2024.