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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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gewürdigt und Schiller gepriesen, als der Mann des Strebens und
des Gedankens, der auf die wirkliche Welt alle Anziehungskraft einer
idealen, die er in sich trug, ausübte. Die hohe Wichtigkeit dieser
Betrachtweise ergiebt sich von selbst. Nichtsdestoweniger darf sie nicht
für die vollständige gelten wollen. Ihr gegenüber steht die rein ästhe¬
tische, welche die Kunst und Poesie als eine eigene, freie Welt nimmt,
und deshalb des Hinblicks auf das- praktische Dasein nicht zuerst be¬
darf. Ja, diese Ansicht liegt der schönen Kunst und Literatur näher,
da sie dieselbe in ihren: eigenen Lichte darstellt; sie gewährt Aussich¬
ten, die, von der andern. Seite her, nicht rein und völlig zu gewin¬
nen sind. Namentlich tritt die ganze formale Seite der Dichtkunst erst
recht hervor, auch das Alterthum kann erst gewürdigt werden, wenn
man mit unvermischten ästhetischen Principien daran geht, der Styl, die ge¬
schichtlichen Stufen des gesammten Dichtungslebens können nur von da aus
in ihren Zusammenhang und in ihrer fortschreitenden Entwicklung durch
alle Zeiten begriffen werden. In Gervinus Geschichte muß das Ge¬
dicht zu oft vor dem Bilde, welches er von dem Charakter und We¬
sen des Dichters entwirft, in den Hintergrund weichen; die Art und
Gestalt des Werkes selbst bleibt uns ferner, weil der Verfasser uns nur
mit der allgemeinen Richtung, der Anlage, dem Gedankengehalt deö
Autors beschäftigt. Man kann zugeben, daß dies wirklich das Mark
der Dichtungen ausmache. Aber es ist, im best.n Fall, doch immer
nur Grundlage und schöpferische Ursache des Gedichtes; oft ist es nur
Mittel und Vorbereitung, es ist nicht das Produkt in seiner Vollen¬
dung, seiner Form, seinem fertigen Bestände. Um eine allumfassende Dar¬
stellung der poetischen Literatur zu geben, müßte ein Geschichtschreiber
seinen Gesichtskreis, in Vergleich mit dem von Gervinus abgesteckten,
verdoppeln; er müßte dahin trachten, uns auch das eigenthümliche Le¬
ben deö künstlerischen Geistes, dessen Aufgabe das Schöne ist, in völ¬
liger Reinheit erkennen zu lassen, und da müßte wohl über manche
Erzeugnisse der deutschen Muse ein ganz anderes Gericht'gehalten wer¬
den, als Gervinus darüber verhängt, der uns, in seiner um'versalhi-
storischen und praktischen , Sphäre befangen, nicht selten in Zweifel läßt,
ob ihm das wahre Verständniß des Schönen in der Poesie aufgegan¬
gen sei. -- . - , , ,

Indem ich eine Uebersicht der letztenPeriode unserer poetischen
Nationalliteratur gebe, glaube ich für Manche unter den belgischen Le¬
sern dieser Blatter den doppelten Zweck zu erfüllen,- sie mit dem vor-


gewürdigt und Schiller gepriesen, als der Mann des Strebens und
des Gedankens, der auf die wirkliche Welt alle Anziehungskraft einer
idealen, die er in sich trug, ausübte. Die hohe Wichtigkeit dieser
Betrachtweise ergiebt sich von selbst. Nichtsdestoweniger darf sie nicht
für die vollständige gelten wollen. Ihr gegenüber steht die rein ästhe¬
tische, welche die Kunst und Poesie als eine eigene, freie Welt nimmt,
und deshalb des Hinblicks auf das- praktische Dasein nicht zuerst be¬
darf. Ja, diese Ansicht liegt der schönen Kunst und Literatur näher,
da sie dieselbe in ihren: eigenen Lichte darstellt; sie gewährt Aussich¬
ten, die, von der andern. Seite her, nicht rein und völlig zu gewin¬
nen sind. Namentlich tritt die ganze formale Seite der Dichtkunst erst
recht hervor, auch das Alterthum kann erst gewürdigt werden, wenn
man mit unvermischten ästhetischen Principien daran geht, der Styl, die ge¬
schichtlichen Stufen des gesammten Dichtungslebens können nur von da aus
in ihren Zusammenhang und in ihrer fortschreitenden Entwicklung durch
alle Zeiten begriffen werden. In Gervinus Geschichte muß das Ge¬
dicht zu oft vor dem Bilde, welches er von dem Charakter und We¬
sen des Dichters entwirft, in den Hintergrund weichen; die Art und
Gestalt des Werkes selbst bleibt uns ferner, weil der Verfasser uns nur
mit der allgemeinen Richtung, der Anlage, dem Gedankengehalt deö
Autors beschäftigt. Man kann zugeben, daß dies wirklich das Mark
der Dichtungen ausmache. Aber es ist, im best.n Fall, doch immer
nur Grundlage und schöpferische Ursache des Gedichtes; oft ist es nur
Mittel und Vorbereitung, es ist nicht das Produkt in seiner Vollen¬
dung, seiner Form, seinem fertigen Bestände. Um eine allumfassende Dar¬
stellung der poetischen Literatur zu geben, müßte ein Geschichtschreiber
seinen Gesichtskreis, in Vergleich mit dem von Gervinus abgesteckten,
verdoppeln; er müßte dahin trachten, uns auch das eigenthümliche Le¬
ben deö künstlerischen Geistes, dessen Aufgabe das Schöne ist, in völ¬
liger Reinheit erkennen zu lassen, und da müßte wohl über manche
Erzeugnisse der deutschen Muse ein ganz anderes Gericht'gehalten wer¬
den, als Gervinus darüber verhängt, der uns, in seiner um'versalhi-
storischen und praktischen , Sphäre befangen, nicht selten in Zweifel läßt,
ob ihm das wahre Verständniß des Schönen in der Poesie aufgegan¬
gen sei. — . - , , ,

Indem ich eine Uebersicht der letztenPeriode unserer poetischen
Nationalliteratur gebe, glaube ich für Manche unter den belgischen Le¬
sern dieser Blatter den doppelten Zweck zu erfüllen,- sie mit dem vor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/92>, abgerufen am 23.07.2024.