tes "System im Körper der Geschichte ausmachen. Die Talente,.deren Bildung und Thun er uns vorführt, sind eben so wenig mechanische, als isolirte Kräfte, eben so wenig bloße Beamte und Delegirte einer Macht, die nicht in ihnen selbst ruhet, als gesetzlose, zufällige, in sich verkommene Gewalten. Er giebt uns das Leben freier Männer, für das Ganze berufener und dadurch auch in sich selbst beruhender Naturen, Glieder eines poetischen Staates, in welchen erst ein jeder seinen wahren Charakter gewinnt und entfaltet. Doch zieht sich der Faden, welcher die Folge der Erscheinungen bindet, nicht als eine abstrakte Re¬ gel durch das Werk; noch löst er sich, als ein letztes schematiches Re¬ sultat, aus denselben los. Gervinus ist zu sehr Meister seines Stoffes bis ins Einzelnste, um je den durchdringenden Blick vom Ganzen aus zu verlieren. Mögen auch manche Principien des Haltes entbehren; die Form des, Werkes beurkundet die größte Consemimz; wir begeg¬ nen nirgends dem Willkührlichem, und doch spricht sich alles in Frische und Fülle aus. Neben dieser Kunst, welche,--abgesehn von dein Verdienste der gelehrten Forschung, der Sichtung, der Auswahl und gedrängten Bemächtigung ernes, unermeßlichen Materials, -- dem Werke seine blei¬ bende Geltung verschafft, wird man besonders noch eine glückliche Cha- rakterisirung gewahr, welche, immer den Grundriß im Auge, jede Linie, jeden Licht- und Schattenzug zu ihrem Bilde verwendet. Dazu befähigte den Verfasser die angedeutete Methode, die Einzelerscheinung an ihre or¬ ganische Stelle zu heben, und sie so in doppeltem Lichte anzuschauen, in dem ihr eignen, und in dem Tage der Oeffentlichkeit, der Zeit und der Welt, in welche sie gehört. Vielleicht geht diese Schärfe der Cha¬ rakterzeichnung bei denjenigen Individualitäten weiter, welche der Mi߬ billigung des Verfassers verfallen sind; hier mußte eine genauere Kritik sich gegen die Autorität mancher verbreiteten Ansicht rechtfertigen. Doch Weist sie sich auch bei denjenigen Dichtern aus, über die, als allgemein beliebte, oft geschilderte und beurtheilte, der Geschichtschreiber in Gefahr geriet!), nur das Bekannte zu wiederholen. Viele Aufschlüsse über die Natur und Richtung der hervorstechendsten Gestalten des deutschen Par¬ nasses verdanken wir den geistvollen Parallelen, welche der Verfasser bald in Umrissen andeutet, bald bis in die feineren Linien verfolgt. In Ger¬ vinus Betrachtungsweise ist Alles bedeutend, alles thätig; das innere Ver¬ mögen des Menschen, und das, was ihm von Außen kommt, bedingen und erklären sich einander; die gemeinhin als Schicksal aufgefaßten Be- gegniss? und Lagen eines-Menschen, die Hindernisse und Antriebe, wo-
tes „System im Körper der Geschichte ausmachen. Die Talente,.deren Bildung und Thun er uns vorführt, sind eben so wenig mechanische, als isolirte Kräfte, eben so wenig bloße Beamte und Delegirte einer Macht, die nicht in ihnen selbst ruhet, als gesetzlose, zufällige, in sich verkommene Gewalten. Er giebt uns das Leben freier Männer, für das Ganze berufener und dadurch auch in sich selbst beruhender Naturen, Glieder eines poetischen Staates, in welchen erst ein jeder seinen wahren Charakter gewinnt und entfaltet. Doch zieht sich der Faden, welcher die Folge der Erscheinungen bindet, nicht als eine abstrakte Re¬ gel durch das Werk; noch löst er sich, als ein letztes schematiches Re¬ sultat, aus denselben los. Gervinus ist zu sehr Meister seines Stoffes bis ins Einzelnste, um je den durchdringenden Blick vom Ganzen aus zu verlieren. Mögen auch manche Principien des Haltes entbehren; die Form des, Werkes beurkundet die größte Consemimz; wir begeg¬ nen nirgends dem Willkührlichem, und doch spricht sich alles in Frische und Fülle aus. Neben dieser Kunst, welche,—abgesehn von dein Verdienste der gelehrten Forschung, der Sichtung, der Auswahl und gedrängten Bemächtigung ernes, unermeßlichen Materials, — dem Werke seine blei¬ bende Geltung verschafft, wird man besonders noch eine glückliche Cha- rakterisirung gewahr, welche, immer den Grundriß im Auge, jede Linie, jeden Licht- und Schattenzug zu ihrem Bilde verwendet. Dazu befähigte den Verfasser die angedeutete Methode, die Einzelerscheinung an ihre or¬ ganische Stelle zu heben, und sie so in doppeltem Lichte anzuschauen, in dem ihr eignen, und in dem Tage der Oeffentlichkeit, der Zeit und der Welt, in welche sie gehört. Vielleicht geht diese Schärfe der Cha¬ rakterzeichnung bei denjenigen Individualitäten weiter, welche der Mi߬ billigung des Verfassers verfallen sind; hier mußte eine genauere Kritik sich gegen die Autorität mancher verbreiteten Ansicht rechtfertigen. Doch Weist sie sich auch bei denjenigen Dichtern aus, über die, als allgemein beliebte, oft geschilderte und beurtheilte, der Geschichtschreiber in Gefahr geriet!), nur das Bekannte zu wiederholen. Viele Aufschlüsse über die Natur und Richtung der hervorstechendsten Gestalten des deutschen Par¬ nasses verdanken wir den geistvollen Parallelen, welche der Verfasser bald in Umrissen andeutet, bald bis in die feineren Linien verfolgt. In Ger¬ vinus Betrachtungsweise ist Alles bedeutend, alles thätig; das innere Ver¬ mögen des Menschen, und das, was ihm von Außen kommt, bedingen und erklären sich einander; die gemeinhin als Schicksal aufgefaßten Be- gegniss? und Lagen eines-Menschen, die Hindernisse und Antriebe, wo-
<TEI><text><body><div><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0089"corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/267304"/><pxml:id="ID_621"prev="#ID_620"next="#ID_622"> tes „System im Körper der Geschichte ausmachen. Die Talente,.deren<lb/>
Bildung und Thun er uns vorführt, sind eben so wenig mechanische,<lb/>
als isolirte Kräfte, eben so wenig bloße Beamte und Delegirte einer<lb/>
Macht, die nicht in ihnen selbst ruhet, als gesetzlose, zufällige, in sich<lb/>
verkommene Gewalten. Er giebt uns das Leben freier Männer, für<lb/>
das Ganze berufener und dadurch auch in sich selbst beruhender Naturen,<lb/>
Glieder eines poetischen Staates, in welchen erst ein jeder seinen<lb/>
wahren Charakter gewinnt und entfaltet. Doch zieht sich der Faden,<lb/>
welcher die Folge der Erscheinungen bindet, nicht als eine abstrakte Re¬<lb/>
gel durch das Werk; noch löst er sich, als ein letztes schematiches Re¬<lb/>
sultat, aus denselben los. Gervinus ist zu sehr Meister seines Stoffes<lb/>
bis ins Einzelnste, um je den durchdringenden Blick vom Ganzen aus<lb/>
zu verlieren. Mögen auch manche Principien des Haltes entbehren;<lb/>
die Form des, Werkes beurkundet die größte Consemimz; wir begeg¬<lb/>
nen nirgends dem Willkührlichem, und doch spricht sich alles in Frische und<lb/>
Fülle aus. Neben dieser Kunst, welche,—abgesehn von dein Verdienste<lb/>
der gelehrten Forschung, der Sichtung, der Auswahl und gedrängten<lb/>
Bemächtigung ernes, unermeßlichen Materials, — dem Werke seine blei¬<lb/>
bende Geltung verschafft, wird man besonders noch eine glückliche Cha-<lb/>
rakterisirung gewahr, welche, immer den Grundriß im Auge, jede Linie,<lb/>
jeden Licht- und Schattenzug zu ihrem Bilde verwendet. Dazu befähigte<lb/>
den Verfasser die angedeutete Methode, die Einzelerscheinung an ihre or¬<lb/>
ganische Stelle zu heben, und sie so in doppeltem Lichte anzuschauen,<lb/>
in dem ihr eignen, und in dem Tage der Oeffentlichkeit, der Zeit und<lb/>
der Welt, in welche sie gehört. Vielleicht geht diese Schärfe der Cha¬<lb/>
rakterzeichnung bei denjenigen Individualitäten weiter, welche der Mi߬<lb/>
billigung des Verfassers verfallen sind; hier mußte eine genauere Kritik<lb/>
sich gegen die Autorität mancher verbreiteten Ansicht rechtfertigen. Doch<lb/>
Weist sie sich auch bei denjenigen Dichtern aus, über die, als allgemein<lb/>
beliebte, oft geschilderte und beurtheilte, der Geschichtschreiber in Gefahr<lb/>
geriet!), nur das Bekannte zu wiederholen. Viele Aufschlüsse über die<lb/>
Natur und Richtung der hervorstechendsten Gestalten des deutschen Par¬<lb/>
nasses verdanken wir den geistvollen Parallelen, welche der Verfasser bald<lb/>
in Umrissen andeutet, bald bis in die feineren Linien verfolgt. In Ger¬<lb/>
vinus Betrachtungsweise ist Alles bedeutend, alles thätig; das innere Ver¬<lb/>
mögen des Menschen, und das, was ihm von Außen kommt, bedingen<lb/>
und erklären sich einander; die gemeinhin als Schicksal aufgefaßten Be-<lb/>
gegniss? und Lagen eines-Menschen, die Hindernisse und Antriebe, wo-</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[0089]
tes „System im Körper der Geschichte ausmachen. Die Talente,.deren
Bildung und Thun er uns vorführt, sind eben so wenig mechanische,
als isolirte Kräfte, eben so wenig bloße Beamte und Delegirte einer
Macht, die nicht in ihnen selbst ruhet, als gesetzlose, zufällige, in sich
verkommene Gewalten. Er giebt uns das Leben freier Männer, für
das Ganze berufener und dadurch auch in sich selbst beruhender Naturen,
Glieder eines poetischen Staates, in welchen erst ein jeder seinen
wahren Charakter gewinnt und entfaltet. Doch zieht sich der Faden,
welcher die Folge der Erscheinungen bindet, nicht als eine abstrakte Re¬
gel durch das Werk; noch löst er sich, als ein letztes schematiches Re¬
sultat, aus denselben los. Gervinus ist zu sehr Meister seines Stoffes
bis ins Einzelnste, um je den durchdringenden Blick vom Ganzen aus
zu verlieren. Mögen auch manche Principien des Haltes entbehren;
die Form des, Werkes beurkundet die größte Consemimz; wir begeg¬
nen nirgends dem Willkührlichem, und doch spricht sich alles in Frische und
Fülle aus. Neben dieser Kunst, welche,—abgesehn von dein Verdienste
der gelehrten Forschung, der Sichtung, der Auswahl und gedrängten
Bemächtigung ernes, unermeßlichen Materials, — dem Werke seine blei¬
bende Geltung verschafft, wird man besonders noch eine glückliche Cha-
rakterisirung gewahr, welche, immer den Grundriß im Auge, jede Linie,
jeden Licht- und Schattenzug zu ihrem Bilde verwendet. Dazu befähigte
den Verfasser die angedeutete Methode, die Einzelerscheinung an ihre or¬
ganische Stelle zu heben, und sie so in doppeltem Lichte anzuschauen,
in dem ihr eignen, und in dem Tage der Oeffentlichkeit, der Zeit und
der Welt, in welche sie gehört. Vielleicht geht diese Schärfe der Cha¬
rakterzeichnung bei denjenigen Individualitäten weiter, welche der Mi߬
billigung des Verfassers verfallen sind; hier mußte eine genauere Kritik
sich gegen die Autorität mancher verbreiteten Ansicht rechtfertigen. Doch
Weist sie sich auch bei denjenigen Dichtern aus, über die, als allgemein
beliebte, oft geschilderte und beurtheilte, der Geschichtschreiber in Gefahr
geriet!), nur das Bekannte zu wiederholen. Viele Aufschlüsse über die
Natur und Richtung der hervorstechendsten Gestalten des deutschen Par¬
nasses verdanken wir den geistvollen Parallelen, welche der Verfasser bald
in Umrissen andeutet, bald bis in die feineren Linien verfolgt. In Ger¬
vinus Betrachtungsweise ist Alles bedeutend, alles thätig; das innere Ver¬
mögen des Menschen, und das, was ihm von Außen kommt, bedingen
und erklären sich einander; die gemeinhin als Schicksal aufgefaßten Be-
gegniss? und Lagen eines-Menschen, die Hindernisse und Antriebe, wo-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:
Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.
Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;
Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/89>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.