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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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dem Hauptjahrcswechscl der Geschichte, immer von neuem die geistige
Saat ^aufschießt. Hätten wir ein vollständiges Bild der griechischen Poesie,
könnten wir dort die großen Dichter in den verschiedenen Gattungen, die
sich, wie bei uns, in einen kurzen Zeitraum zusammendrängen, in ihren
Schöpfungen begleiten, und vermöchten wir, mit einem Blicke die Denk¬
male der redenden und bildenden Künste als Eine Gegenwart des helle¬
nischen Geistes zu umfassen und sie uns nahe zu sichten, nur dann wHde
die Geschichte der deutschen Dichtung den Nang abtreten, welcher ihr
jetzt gebührt; 'sie würde vor einer Zeit zurückstehen, die in eben dem
Maße eine Blüthe aller Kunst und Poesie erreicht hat, wie die letzte
Periode in Deutschland in einzelnen höheren Gattungen. Das Gefühl,
welches die Größe des Gegenstandes einflößt, tritt uns in der Schrift
von Gervinus auf allen Seiten entgegen; der Verfasser war es sich klar
bewußt, daß er ein Ganzes unter der Hand habe, eine abgeschlossene
mächtige Lebensäußerung der Nation; und wenn er sich bestrebt, den
Gewinn, den dauernden Werth, den die Arbeit unserer edelsten Geister
für alle Zukunft hat, uns darzubringen, so ist dies Unternehmen selbst
ein Erweis, daß es Zeit ist, über das bisher Geleistete ins Reine zu
kommen, und die Erzeugnisse der Vergangenheit in das Bewußtsein des
Volkes aufzunehmen. ' ' '

Der Verlauf dieser Blätter wird zeigen, daß ich Gervinus Leistung
nicht überschätze; aber ich glaube, daß nicht leicht ein Leser das Buch
aus der Hand legen wird, ohne mit der Geschichte und dem Geiste des
Vaterlandes einen festern Bund geschlossen, ohne für viele seiner innig¬
sten' Ueberzeugungen neue Bestätigung, ohne über. Hauptpunkte von all¬
gemeinem Interesse neue Aufschlüsse gefunden zu haben. Die Forschung
unseres Historikers ist beständig auf das Tüchtige und Echte hingerich¬
tet; nicht die gelehrte Kenntniß zu sammeln und aufzustellen, ist fein Ziel,
sondern den Kern zu ergründen; nicht bei der äußerlichen Thatsache bleibt
er stehen, sondern er schreitet beständig auf den Grund derselben los,
auf den Sinn und Willen, der darin liegt. Auch nicht die besondere
wirkende Kraft, die Anlage und Richtung eines Autors ist sein letzter
Zielpunkt, sondern vielmehr die Bewegung im Ganzen und Großen, das
organische Zusammenwirken der Faktoren in der Einen Fluth der
National- und Zeitgeschichte. Darin bewährt sich Gervinus als echter
Historiker, für den die Personen und Charaktere Kräfte des Ganzen
sind, Vertreter, oder vielmehr wirkliche Darsteller der geschichtlichen
Mächte und Funktionen, die ein Volk, eine Periode, oder ein bestimm-


dem Hauptjahrcswechscl der Geschichte, immer von neuem die geistige
Saat ^aufschießt. Hätten wir ein vollständiges Bild der griechischen Poesie,
könnten wir dort die großen Dichter in den verschiedenen Gattungen, die
sich, wie bei uns, in einen kurzen Zeitraum zusammendrängen, in ihren
Schöpfungen begleiten, und vermöchten wir, mit einem Blicke die Denk¬
male der redenden und bildenden Künste als Eine Gegenwart des helle¬
nischen Geistes zu umfassen und sie uns nahe zu sichten, nur dann wHde
die Geschichte der deutschen Dichtung den Nang abtreten, welcher ihr
jetzt gebührt; 'sie würde vor einer Zeit zurückstehen, die in eben dem
Maße eine Blüthe aller Kunst und Poesie erreicht hat, wie die letzte
Periode in Deutschland in einzelnen höheren Gattungen. Das Gefühl,
welches die Größe des Gegenstandes einflößt, tritt uns in der Schrift
von Gervinus auf allen Seiten entgegen; der Verfasser war es sich klar
bewußt, daß er ein Ganzes unter der Hand habe, eine abgeschlossene
mächtige Lebensäußerung der Nation; und wenn er sich bestrebt, den
Gewinn, den dauernden Werth, den die Arbeit unserer edelsten Geister
für alle Zukunft hat, uns darzubringen, so ist dies Unternehmen selbst
ein Erweis, daß es Zeit ist, über das bisher Geleistete ins Reine zu
kommen, und die Erzeugnisse der Vergangenheit in das Bewußtsein des
Volkes aufzunehmen. ' ' '

Der Verlauf dieser Blätter wird zeigen, daß ich Gervinus Leistung
nicht überschätze; aber ich glaube, daß nicht leicht ein Leser das Buch
aus der Hand legen wird, ohne mit der Geschichte und dem Geiste des
Vaterlandes einen festern Bund geschlossen, ohne für viele seiner innig¬
sten' Ueberzeugungen neue Bestätigung, ohne über. Hauptpunkte von all¬
gemeinem Interesse neue Aufschlüsse gefunden zu haben. Die Forschung
unseres Historikers ist beständig auf das Tüchtige und Echte hingerich¬
tet; nicht die gelehrte Kenntniß zu sammeln und aufzustellen, ist fein Ziel,
sondern den Kern zu ergründen; nicht bei der äußerlichen Thatsache bleibt
er stehen, sondern er schreitet beständig auf den Grund derselben los,
auf den Sinn und Willen, der darin liegt. Auch nicht die besondere
wirkende Kraft, die Anlage und Richtung eines Autors ist sein letzter
Zielpunkt, sondern vielmehr die Bewegung im Ganzen und Großen, das
organische Zusammenwirken der Faktoren in der Einen Fluth der
National- und Zeitgeschichte. Darin bewährt sich Gervinus als echter
Historiker, für den die Personen und Charaktere Kräfte des Ganzen
sind, Vertreter, oder vielmehr wirkliche Darsteller der geschichtlichen
Mächte und Funktionen, die ein Volk, eine Periode, oder ein bestimm-


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[0088] dem Hauptjahrcswechscl der Geschichte, immer von neuem die geistige Saat ^aufschießt. Hätten wir ein vollständiges Bild der griechischen Poesie, könnten wir dort die großen Dichter in den verschiedenen Gattungen, die sich, wie bei uns, in einen kurzen Zeitraum zusammendrängen, in ihren Schöpfungen begleiten, und vermöchten wir, mit einem Blicke die Denk¬ male der redenden und bildenden Künste als Eine Gegenwart des helle¬ nischen Geistes zu umfassen und sie uns nahe zu sichten, nur dann wHde die Geschichte der deutschen Dichtung den Nang abtreten, welcher ihr jetzt gebührt; 'sie würde vor einer Zeit zurückstehen, die in eben dem Maße eine Blüthe aller Kunst und Poesie erreicht hat, wie die letzte Periode in Deutschland in einzelnen höheren Gattungen. Das Gefühl, welches die Größe des Gegenstandes einflößt, tritt uns in der Schrift von Gervinus auf allen Seiten entgegen; der Verfasser war es sich klar bewußt, daß er ein Ganzes unter der Hand habe, eine abgeschlossene mächtige Lebensäußerung der Nation; und wenn er sich bestrebt, den Gewinn, den dauernden Werth, den die Arbeit unserer edelsten Geister für alle Zukunft hat, uns darzubringen, so ist dies Unternehmen selbst ein Erweis, daß es Zeit ist, über das bisher Geleistete ins Reine zu kommen, und die Erzeugnisse der Vergangenheit in das Bewußtsein des Volkes aufzunehmen. ' ' ' Der Verlauf dieser Blätter wird zeigen, daß ich Gervinus Leistung nicht überschätze; aber ich glaube, daß nicht leicht ein Leser das Buch aus der Hand legen wird, ohne mit der Geschichte und dem Geiste des Vaterlandes einen festern Bund geschlossen, ohne für viele seiner innig¬ sten' Ueberzeugungen neue Bestätigung, ohne über. Hauptpunkte von all¬ gemeinem Interesse neue Aufschlüsse gefunden zu haben. Die Forschung unseres Historikers ist beständig auf das Tüchtige und Echte hingerich¬ tet; nicht die gelehrte Kenntniß zu sammeln und aufzustellen, ist fein Ziel, sondern den Kern zu ergründen; nicht bei der äußerlichen Thatsache bleibt er stehen, sondern er schreitet beständig auf den Grund derselben los, auf den Sinn und Willen, der darin liegt. Auch nicht die besondere wirkende Kraft, die Anlage und Richtung eines Autors ist sein letzter Zielpunkt, sondern vielmehr die Bewegung im Ganzen und Großen, das organische Zusammenwirken der Faktoren in der Einen Fluth der National- und Zeitgeschichte. Darin bewährt sich Gervinus als echter Historiker, für den die Personen und Charaktere Kräfte des Ganzen sind, Vertreter, oder vielmehr wirkliche Darsteller der geschichtlichen Mächte und Funktionen, die ein Volk, eine Periode, oder ein bestimm-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/88>, abgerufen am 23.07.2024.