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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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ren. Das Leben wird gespenstisch um sie herum, und indem sie den
Geliebten zu umarmen denkt, umarmt sie der Tod. Eine Vergel¬
tung, eine Strafe ist es, der sie verfällt. Von allem Dem ist im
Erlkönig keine Spur. Um das arme Kind belebt sich gleichfalls in
finsterer Nacht die Natur, aber kein religiöses Gesetz giebt ihr die¬
ses Leben -- Ein verknorrter Weiterbauen, ein Nebelstreif, ein Wind¬
stoß stürmn den zarten Knaben in Todesangst, und diese
Angst reicht für den Dichter I)in, sein Kunstwerk zu schaffen.
Er sicht all die lebenden Gestalten, mit welchen die aufgeregte Kin¬
desphantasie die Natur bevölkert, und diese Gestalten hält er fest und
malt sie hin, und ist sicher, daß der Leser das Echo der Angst em¬
pfinden wird, welches den Knaben tödtet. Bürgers Zweck ist die Mo¬
ral, der bessernde Eindruck, den sein Gedicht auf den Begriff des
Lesers äußern soll. Göthe war es nur um das Kunstwerk, um die
Empfindung zu thun, welche es hervorbringt. Bürgers Standpunkt
ist die Bibel, Göthes Standpunkt ist die Natur. Bürgers Gedicht
kann nur solchen Völkern verständlich sein, welche in unsern'Begrif¬
fen über Religion und Moral emporgewachsen sind, Göthes Gedicht
aber kann, auf den heidnischen Griechen oder auf den Braminen in '
Hindostan denselben ^Eindruck, machen, den es, auf uns macht. Die¬
sen Maßstab muß man bei allen Götheschen Gedichten anlegen, es
ist die erste Regel, wenn man sie begreifen will. ' > >

Einer Haupteigenthümlichkeit der Götheschen Gedichte muß hier
erwähnt werden. Sie gleichen meistens jenen Brustbildern, in wel¬
chen nur der Haupttheil des. menschlichen Körpers abgezeichnet ist.
Denn, so wie der Maler voraussetzt, daß sich der.Beschauer Hände
und Füße und das sonst Fehlende dazu denken werde, so schließen
die Götheschen Gedichte keineswegs das ganze fertige Bild in ihren
Nahmen ein, fondern sie verlangen von dem Leser das, was der
Dichter unvollendet ließ, durch seine Phantasie fortzusetzen. Wer
daher ein solches Gedicht rasch durchliest, und der Meinung ist, er
sei bei der letzten Strophe mit dem Ganzen zu Ende, der wird die¬
sen Gedichten nie großen Geschmack abgewinnen, wie sehr er auch da¬
mit prahlen mag. Um Göthe zu genießen, muß man nach dem
kleinsten Gedicht das Buch zumachen, und wenn man kann, auch
die Augen, und muß ein Weilchen stille , sitzen, und den'Ton forttö-
nen lassen, den der Dichter angeschlagen. Diejenigen unter meinen


ren. Das Leben wird gespenstisch um sie herum, und indem sie den
Geliebten zu umarmen denkt, umarmt sie der Tod. Eine Vergel¬
tung, eine Strafe ist es, der sie verfällt. Von allem Dem ist im
Erlkönig keine Spur. Um das arme Kind belebt sich gleichfalls in
finsterer Nacht die Natur, aber kein religiöses Gesetz giebt ihr die¬
ses Leben — Ein verknorrter Weiterbauen, ein Nebelstreif, ein Wind¬
stoß stürmn den zarten Knaben in Todesangst, und diese
Angst reicht für den Dichter I)in, sein Kunstwerk zu schaffen.
Er sicht all die lebenden Gestalten, mit welchen die aufgeregte Kin¬
desphantasie die Natur bevölkert, und diese Gestalten hält er fest und
malt sie hin, und ist sicher, daß der Leser das Echo der Angst em¬
pfinden wird, welches den Knaben tödtet. Bürgers Zweck ist die Mo¬
ral, der bessernde Eindruck, den sein Gedicht auf den Begriff des
Lesers äußern soll. Göthe war es nur um das Kunstwerk, um die
Empfindung zu thun, welche es hervorbringt. Bürgers Standpunkt
ist die Bibel, Göthes Standpunkt ist die Natur. Bürgers Gedicht
kann nur solchen Völkern verständlich sein, welche in unsern'Begrif¬
fen über Religion und Moral emporgewachsen sind, Göthes Gedicht
aber kann, auf den heidnischen Griechen oder auf den Braminen in '
Hindostan denselben ^Eindruck, machen, den es, auf uns macht. Die¬
sen Maßstab muß man bei allen Götheschen Gedichten anlegen, es
ist die erste Regel, wenn man sie begreifen will. ' > >

Einer Haupteigenthümlichkeit der Götheschen Gedichte muß hier
erwähnt werden. Sie gleichen meistens jenen Brustbildern, in wel¬
chen nur der Haupttheil des. menschlichen Körpers abgezeichnet ist.
Denn, so wie der Maler voraussetzt, daß sich der.Beschauer Hände
und Füße und das sonst Fehlende dazu denken werde, so schließen
die Götheschen Gedichte keineswegs das ganze fertige Bild in ihren
Nahmen ein, fondern sie verlangen von dem Leser das, was der
Dichter unvollendet ließ, durch seine Phantasie fortzusetzen. Wer
daher ein solches Gedicht rasch durchliest, und der Meinung ist, er
sei bei der letzten Strophe mit dem Ganzen zu Ende, der wird die¬
sen Gedichten nie großen Geschmack abgewinnen, wie sehr er auch da¬
mit prahlen mag. Um Göthe zu genießen, muß man nach dem
kleinsten Gedicht das Buch zumachen, und wenn man kann, auch
die Augen, und muß ein Weilchen stille , sitzen, und den'Ton forttö-
nen lassen, den der Dichter angeschlagen. Diejenigen unter meinen


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[0618] ren. Das Leben wird gespenstisch um sie herum, und indem sie den Geliebten zu umarmen denkt, umarmt sie der Tod. Eine Vergel¬ tung, eine Strafe ist es, der sie verfällt. Von allem Dem ist im Erlkönig keine Spur. Um das arme Kind belebt sich gleichfalls in finsterer Nacht die Natur, aber kein religiöses Gesetz giebt ihr die¬ ses Leben — Ein verknorrter Weiterbauen, ein Nebelstreif, ein Wind¬ stoß stürmn den zarten Knaben in Todesangst, und diese Angst reicht für den Dichter I)in, sein Kunstwerk zu schaffen. Er sicht all die lebenden Gestalten, mit welchen die aufgeregte Kin¬ desphantasie die Natur bevölkert, und diese Gestalten hält er fest und malt sie hin, und ist sicher, daß der Leser das Echo der Angst em¬ pfinden wird, welches den Knaben tödtet. Bürgers Zweck ist die Mo¬ ral, der bessernde Eindruck, den sein Gedicht auf den Begriff des Lesers äußern soll. Göthe war es nur um das Kunstwerk, um die Empfindung zu thun, welche es hervorbringt. Bürgers Standpunkt ist die Bibel, Göthes Standpunkt ist die Natur. Bürgers Gedicht kann nur solchen Völkern verständlich sein, welche in unsern'Begrif¬ fen über Religion und Moral emporgewachsen sind, Göthes Gedicht aber kann, auf den heidnischen Griechen oder auf den Braminen in ' Hindostan denselben ^Eindruck, machen, den es, auf uns macht. Die¬ sen Maßstab muß man bei allen Götheschen Gedichten anlegen, es ist die erste Regel, wenn man sie begreifen will. ' > > Einer Haupteigenthümlichkeit der Götheschen Gedichte muß hier erwähnt werden. Sie gleichen meistens jenen Brustbildern, in wel¬ chen nur der Haupttheil des. menschlichen Körpers abgezeichnet ist. Denn, so wie der Maler voraussetzt, daß sich der.Beschauer Hände und Füße und das sonst Fehlende dazu denken werde, so schließen die Götheschen Gedichte keineswegs das ganze fertige Bild in ihren Nahmen ein, fondern sie verlangen von dem Leser das, was der Dichter unvollendet ließ, durch seine Phantasie fortzusetzen. Wer daher ein solches Gedicht rasch durchliest, und der Meinung ist, er sei bei der letzten Strophe mit dem Ganzen zu Ende, der wird die¬ sen Gedichten nie großen Geschmack abgewinnen, wie sehr er auch da¬ mit prahlen mag. Um Göthe zu genießen, muß man nach dem kleinsten Gedicht das Buch zumachen, und wenn man kann, auch die Augen, und muß ein Weilchen stille , sitzen, und den'Ton forttö- nen lassen, den der Dichter angeschlagen. Diejenigen unter meinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/618>, abgerufen am 23.07.2024.