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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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Ingres, der tiefste Denker unter den französischen Malern, be¬
müht sich ohne Unterlaß, das Gebiet der Kunst zu erweitern. Wenn
Cherubini, der vor Kurzem gestorben ist, ein großer Künstler war, so
gab doch seine kleine und unansehnliche Gestalt gar wenig günstigen
Stoff sür die Wirkung der Kunst. Seine Gesichtszüge waren hart, der
Ausdruck derselben > meistens herb und unfreundlich. Aber Ingres ver¬
stand es, aus diesem mürrischen mit Runzeln bedeckten Greisenkopfe ei¬
nen der edelsten, ruhigsten und gedankenvollsten Kopfe zu machen, die
man nur sehen kann, und doch hat er der Aehnlichkeit dadurch keinen
Eintrag gethan. Ich glaube, wenn er sich damit allein begnügt hätte,
so würde dies Bild den berühmtesten Portraits des siebzehnten Jahr¬
hunderts gleichgeschätzt' werden. Aber der Maler hatte gemeint, daß
sein Gedanke unvollständig bleiben würde, wenn der Beschauer nichts
als einen Mann vor sich sähe, der sich einem unbestimmten, träumeri¬
schen Sinnen hingiebt, dessen Gegenstand wir jedoch nicht errathen kön¬
nen; um letztern anzudeuten^ Hat er die Begeisterung, welche den Greis
in diesem Augenblicke ergreift, in der hinten stehenden Figur der Euter-
Pe, der Göttin der Musik, personificirt. Nun stelle man sich die schöne
und mächtige Muse.des Alterthums vor, gekleidet in die sittsamen Fal¬
ten ihres herabwallenden Gewandes, ihre göttliche Hand^über die Stirn
eines ganz kleinen Greises senkend, der in einen Sessel gedrückt sitzt,
mit weißem Halstuch,' im'schwarzen Kleide, nach der Mode, unserer
Zeit, in einer Tracht, die selbst aus dem weiten Mantel, der sie zum
Theil' verhüllt, geschmacklos und lächerlich durchblickt, und zum
Ueberfluß füge man noch dazu den Orden der Ehrenlegion! .Diese
schöne Jungfrau, welche'eine Leier hält, und einen meisterhaft verkürz¬
ten Arm. emporhebt, grade als ließe sie ihren reizenden Fingern einen
magnetischen Strom entfließen, gehört einer eignen Welt an, und der
kleine nachsinnende alte Mann da wieder einer eigenen. Dem Beschauer
aber fehlt das Band, das beide vereinigen könnte, ihm fehlt der Blick
des Glaubens. Das Bild erscheint aus diese Weise entzweigeschnitten.
Was der Maler geleistet hat, ist nichts weiter, als hier ein köstliches
Portrait Cherubini's und dort ein vortreffliches antikes Bild, eine sehr
schöne Frauengestalt, die sich in eine Muse hat umwandeln lassen, denn
die Besucher des Saals haben in den Zügen der Muse Euterpe das
Gesicht des Fräuleins von R...l, der Tochter eines ehemaligen fran¬
zösischen, Gesandten'in-Madrid herausgefunden. Und was nun in der
That/zu beklagen'ist, diese beiden Bildnisse, die, wenn man die Aus-


Ingres, der tiefste Denker unter den französischen Malern, be¬
müht sich ohne Unterlaß, das Gebiet der Kunst zu erweitern. Wenn
Cherubini, der vor Kurzem gestorben ist, ein großer Künstler war, so
gab doch seine kleine und unansehnliche Gestalt gar wenig günstigen
Stoff sür die Wirkung der Kunst. Seine Gesichtszüge waren hart, der
Ausdruck derselben > meistens herb und unfreundlich. Aber Ingres ver¬
stand es, aus diesem mürrischen mit Runzeln bedeckten Greisenkopfe ei¬
nen der edelsten, ruhigsten und gedankenvollsten Kopfe zu machen, die
man nur sehen kann, und doch hat er der Aehnlichkeit dadurch keinen
Eintrag gethan. Ich glaube, wenn er sich damit allein begnügt hätte,
so würde dies Bild den berühmtesten Portraits des siebzehnten Jahr¬
hunderts gleichgeschätzt' werden. Aber der Maler hatte gemeint, daß
sein Gedanke unvollständig bleiben würde, wenn der Beschauer nichts
als einen Mann vor sich sähe, der sich einem unbestimmten, träumeri¬
schen Sinnen hingiebt, dessen Gegenstand wir jedoch nicht errathen kön¬
nen; um letztern anzudeuten^ Hat er die Begeisterung, welche den Greis
in diesem Augenblicke ergreift, in der hinten stehenden Figur der Euter-
Pe, der Göttin der Musik, personificirt. Nun stelle man sich die schöne
und mächtige Muse.des Alterthums vor, gekleidet in die sittsamen Fal¬
ten ihres herabwallenden Gewandes, ihre göttliche Hand^über die Stirn
eines ganz kleinen Greises senkend, der in einen Sessel gedrückt sitzt,
mit weißem Halstuch,' im'schwarzen Kleide, nach der Mode, unserer
Zeit, in einer Tracht, die selbst aus dem weiten Mantel, der sie zum
Theil' verhüllt, geschmacklos und lächerlich durchblickt, und zum
Ueberfluß füge man noch dazu den Orden der Ehrenlegion! .Diese
schöne Jungfrau, welche'eine Leier hält, und einen meisterhaft verkürz¬
ten Arm. emporhebt, grade als ließe sie ihren reizenden Fingern einen
magnetischen Strom entfließen, gehört einer eignen Welt an, und der
kleine nachsinnende alte Mann da wieder einer eigenen. Dem Beschauer
aber fehlt das Band, das beide vereinigen könnte, ihm fehlt der Blick
des Glaubens. Das Bild erscheint aus diese Weise entzweigeschnitten.
Was der Maler geleistet hat, ist nichts weiter, als hier ein köstliches
Portrait Cherubini's und dort ein vortreffliches antikes Bild, eine sehr
schöne Frauengestalt, die sich in eine Muse hat umwandeln lassen, denn
die Besucher des Saals haben in den Zügen der Muse Euterpe das
Gesicht des Fräuleins von R...l, der Tochter eines ehemaligen fran¬
zösischen, Gesandten'in-Madrid herausgefunden. Und was nun in der
That/zu beklagen'ist, diese beiden Bildnisse, die, wenn man die Aus-


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[0409] Ingres, der tiefste Denker unter den französischen Malern, be¬ müht sich ohne Unterlaß, das Gebiet der Kunst zu erweitern. Wenn Cherubini, der vor Kurzem gestorben ist, ein großer Künstler war, so gab doch seine kleine und unansehnliche Gestalt gar wenig günstigen Stoff sür die Wirkung der Kunst. Seine Gesichtszüge waren hart, der Ausdruck derselben > meistens herb und unfreundlich. Aber Ingres ver¬ stand es, aus diesem mürrischen mit Runzeln bedeckten Greisenkopfe ei¬ nen der edelsten, ruhigsten und gedankenvollsten Kopfe zu machen, die man nur sehen kann, und doch hat er der Aehnlichkeit dadurch keinen Eintrag gethan. Ich glaube, wenn er sich damit allein begnügt hätte, so würde dies Bild den berühmtesten Portraits des siebzehnten Jahr¬ hunderts gleichgeschätzt' werden. Aber der Maler hatte gemeint, daß sein Gedanke unvollständig bleiben würde, wenn der Beschauer nichts als einen Mann vor sich sähe, der sich einem unbestimmten, träumeri¬ schen Sinnen hingiebt, dessen Gegenstand wir jedoch nicht errathen kön¬ nen; um letztern anzudeuten^ Hat er die Begeisterung, welche den Greis in diesem Augenblicke ergreift, in der hinten stehenden Figur der Euter- Pe, der Göttin der Musik, personificirt. Nun stelle man sich die schöne und mächtige Muse.des Alterthums vor, gekleidet in die sittsamen Fal¬ ten ihres herabwallenden Gewandes, ihre göttliche Hand^über die Stirn eines ganz kleinen Greises senkend, der in einen Sessel gedrückt sitzt, mit weißem Halstuch,' im'schwarzen Kleide, nach der Mode, unserer Zeit, in einer Tracht, die selbst aus dem weiten Mantel, der sie zum Theil' verhüllt, geschmacklos und lächerlich durchblickt, und zum Ueberfluß füge man noch dazu den Orden der Ehrenlegion! .Diese schöne Jungfrau, welche'eine Leier hält, und einen meisterhaft verkürz¬ ten Arm. emporhebt, grade als ließe sie ihren reizenden Fingern einen magnetischen Strom entfließen, gehört einer eignen Welt an, und der kleine nachsinnende alte Mann da wieder einer eigenen. Dem Beschauer aber fehlt das Band, das beide vereinigen könnte, ihm fehlt der Blick des Glaubens. Das Bild erscheint aus diese Weise entzweigeschnitten. Was der Maler geleistet hat, ist nichts weiter, als hier ein köstliches Portrait Cherubini's und dort ein vortreffliches antikes Bild, eine sehr schöne Frauengestalt, die sich in eine Muse hat umwandeln lassen, denn die Besucher des Saals haben in den Zügen der Muse Euterpe das Gesicht des Fräuleins von R...l, der Tochter eines ehemaligen fran¬ zösischen, Gesandten'in-Madrid herausgefunden. Und was nun in der That/zu beklagen'ist, diese beiden Bildnisse, die, wenn man die Aus- Sö

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/409>, abgerufen am 22.12.2024.