Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

zetreten. Eine Frau begegnet einer Jugendbekanntschaft; sie bildet sich
ein, diese habe ihren Gruß nicht erwidert und -- erstickt sich. Einem
Jungen von 13 Jahren verbieten seine Eltern an einem Feiertage seine
Sonntagskleider anzuziehen; diese Straft ist für ihn unerträglich; er er¬
hängt sich. Ein Lotcrie-Collectear hat das Unglück, daß unter allen bei
ihm gespielten Loosen auch nicht Ein, Gewinner ist; das steigt ihm zu
Kopfe und er schneidet sich mit seinen: Rasirmesser den Hals ab, und
zwar mit so fester Hand, daß der Schnitt durch alle Wirbel ging. Im
letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts bildete sich in Rußland plötz¬
lich eine Secte schwarzgalliger Fanatiker, die alle die Sucht des Selbst¬
mordes hatten; die Einmischung der Regierung und strenge Maßregeln
machten die Sache noch ärger. Da beschloß die Kaiserin Catharina, die
im Grunde nicht ohne Geist war, man solle sich nicht mit ihnen beschäf¬
tigen, und ließ sie ganz nach Belieben sich die Kehle abschneiden; die
Journale durften ihnen auch nicht eine Zeile widmen; und gar
bald fingen diese Leute an, sehr gern beim Leben zu bleiben, sobald sie
sahen, daß man ihren Tod sehr gleichgültig mit ansah.

Es giebt aber auch Fälle von Selbstmord, die durchaus unbere¬
chenbar sind und welche wirklich einem plötzlichen Stillstehen der Geistes¬
kräfte im Menschen scheinen zugeschrieben werden zu müssen. Ein Bei¬
spiel davon hat man letzthin in Paris gehabt, einer herrlichen Stadt,
in der man Alles findet, wenn man uur ein Bischen sucht oder Zeit
hat zu warten. Ein Mann ging über den Pont-Neuf, ruhig, gleichgül¬
tig, mit den Händen in den Taschen. Auf ein Mal steigt er auf's Ge¬
länder und stürzt sich in den Strom hinab. Mau sieht es, läuft her¬
bei, fischt ihn glücklich aus dem Wasser auf und bringt ihn wieder zum
Leben. Einige Tage, nachdem er gänzlich wiederhergestellt war, wagt
um es, ihn über die Ursachen seiner sonderbaren Handlung zu befra¬
gen. //Ich kann keine angeben, erwidert er; meine Stellung ist eine sehr
glückliche, ich habe weder gegen das Schicksal, noch gegen die Menschen ir¬
gend eine Klage zu führen; ich befinde mich vollkommen wohl, halte
täglich 4 Mahlzeiten mit dem besten Appetit, verdaue sehr gut und schlafe
besser. Ich erinnere mich übrigens uur meiner Ankunft auf dem Pont-
Neuf und des Augenblicks, wo ich wieder zu nur kam. Von dem, was
dazwischen liegt, weiß ich keine Rechenschaft abzugeben". Hier ist nun
ein plötzlicher, Stillstand der Vernunft klar; ward dieser Mann vielleicht
durch irgend eine heftige, unvermuthete, in ihrer Schnelligkeit nicht reif¬
lich durchdachte Ideencombination zu diesem tollen Schritt bewogen? Wer


zetreten. Eine Frau begegnet einer Jugendbekanntschaft; sie bildet sich
ein, diese habe ihren Gruß nicht erwidert und — erstickt sich. Einem
Jungen von 13 Jahren verbieten seine Eltern an einem Feiertage seine
Sonntagskleider anzuziehen; diese Straft ist für ihn unerträglich; er er¬
hängt sich. Ein Lotcrie-Collectear hat das Unglück, daß unter allen bei
ihm gespielten Loosen auch nicht Ein, Gewinner ist; das steigt ihm zu
Kopfe und er schneidet sich mit seinen: Rasirmesser den Hals ab, und
zwar mit so fester Hand, daß der Schnitt durch alle Wirbel ging. Im
letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts bildete sich in Rußland plötz¬
lich eine Secte schwarzgalliger Fanatiker, die alle die Sucht des Selbst¬
mordes hatten; die Einmischung der Regierung und strenge Maßregeln
machten die Sache noch ärger. Da beschloß die Kaiserin Catharina, die
im Grunde nicht ohne Geist war, man solle sich nicht mit ihnen beschäf¬
tigen, und ließ sie ganz nach Belieben sich die Kehle abschneiden; die
Journale durften ihnen auch nicht eine Zeile widmen; und gar
bald fingen diese Leute an, sehr gern beim Leben zu bleiben, sobald sie
sahen, daß man ihren Tod sehr gleichgültig mit ansah.

Es giebt aber auch Fälle von Selbstmord, die durchaus unbere¬
chenbar sind und welche wirklich einem plötzlichen Stillstehen der Geistes¬
kräfte im Menschen scheinen zugeschrieben werden zu müssen. Ein Bei¬
spiel davon hat man letzthin in Paris gehabt, einer herrlichen Stadt,
in der man Alles findet, wenn man uur ein Bischen sucht oder Zeit
hat zu warten. Ein Mann ging über den Pont-Neuf, ruhig, gleichgül¬
tig, mit den Händen in den Taschen. Auf ein Mal steigt er auf's Ge¬
länder und stürzt sich in den Strom hinab. Mau sieht es, läuft her¬
bei, fischt ihn glücklich aus dem Wasser auf und bringt ihn wieder zum
Leben. Einige Tage, nachdem er gänzlich wiederhergestellt war, wagt
um es, ihn über die Ursachen seiner sonderbaren Handlung zu befra¬
gen. //Ich kann keine angeben, erwidert er; meine Stellung ist eine sehr
glückliche, ich habe weder gegen das Schicksal, noch gegen die Menschen ir¬
gend eine Klage zu führen; ich befinde mich vollkommen wohl, halte
täglich 4 Mahlzeiten mit dem besten Appetit, verdaue sehr gut und schlafe
besser. Ich erinnere mich übrigens uur meiner Ankunft auf dem Pont-
Neuf und des Augenblicks, wo ich wieder zu nur kam. Von dem, was
dazwischen liegt, weiß ich keine Rechenschaft abzugeben". Hier ist nun
ein plötzlicher, Stillstand der Vernunft klar; ward dieser Mann vielleicht
durch irgend eine heftige, unvermuthete, in ihrer Schnelligkeit nicht reif¬
lich durchdachte Ideencombination zu diesem tollen Schritt bewogen? Wer


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0256" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/267470"/>
          <p xml:id="ID_1055" prev="#ID_1054"> zetreten. Eine Frau begegnet einer Jugendbekanntschaft; sie bildet sich<lb/>
ein, diese habe ihren Gruß nicht erwidert und &#x2014; erstickt sich. Einem<lb/>
Jungen von 13 Jahren verbieten seine Eltern an einem Feiertage seine<lb/>
Sonntagskleider anzuziehen; diese Straft ist für ihn unerträglich; er er¬<lb/>
hängt sich. Ein Lotcrie-Collectear hat das Unglück, daß unter allen bei<lb/>
ihm gespielten Loosen auch nicht Ein, Gewinner ist; das steigt ihm zu<lb/>
Kopfe und er schneidet sich mit seinen: Rasirmesser den Hals ab, und<lb/>
zwar mit so fester Hand, daß der Schnitt durch alle Wirbel ging. Im<lb/>
letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts bildete sich in Rußland plötz¬<lb/>
lich eine Secte schwarzgalliger Fanatiker, die alle die Sucht des Selbst¬<lb/>
mordes hatten; die Einmischung der Regierung und strenge Maßregeln<lb/>
machten die Sache noch ärger. Da beschloß die Kaiserin Catharina, die<lb/>
im Grunde nicht ohne Geist war, man solle sich nicht mit ihnen beschäf¬<lb/>
tigen, und ließ sie ganz nach Belieben sich die Kehle abschneiden; die<lb/>
Journale durften ihnen auch nicht eine Zeile widmen; und gar<lb/>
bald fingen diese Leute an, sehr gern beim Leben zu bleiben, sobald sie<lb/>
sahen, daß man ihren Tod sehr gleichgültig mit ansah.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1056" next="#ID_1057"> Es giebt aber auch Fälle von Selbstmord, die durchaus unbere¬<lb/>
chenbar sind und welche wirklich einem plötzlichen Stillstehen der Geistes¬<lb/>
kräfte im Menschen scheinen zugeschrieben werden zu müssen. Ein Bei¬<lb/>
spiel davon hat man letzthin in Paris gehabt, einer herrlichen Stadt,<lb/>
in der man Alles findet, wenn man uur ein Bischen sucht oder Zeit<lb/>
hat zu warten. Ein Mann ging über den Pont-Neuf, ruhig, gleichgül¬<lb/>
tig, mit den Händen in den Taschen. Auf ein Mal steigt er auf's Ge¬<lb/>
länder und stürzt sich in den Strom hinab. Mau sieht es, läuft her¬<lb/>
bei, fischt ihn glücklich aus dem Wasser auf und bringt ihn wieder zum<lb/>
Leben. Einige Tage, nachdem er gänzlich wiederhergestellt war, wagt<lb/>
um es, ihn über die Ursachen seiner sonderbaren Handlung zu befra¬<lb/>
gen. //Ich kann keine angeben, erwidert er; meine Stellung ist eine sehr<lb/>
glückliche, ich habe weder gegen das Schicksal, noch gegen die Menschen ir¬<lb/>
gend eine Klage zu führen; ich befinde mich vollkommen wohl, halte<lb/>
täglich 4 Mahlzeiten mit dem besten Appetit, verdaue sehr gut und schlafe<lb/>
besser. Ich erinnere mich übrigens uur meiner Ankunft auf dem Pont-<lb/>
Neuf und des Augenblicks, wo ich wieder zu nur kam. Von dem, was<lb/>
dazwischen liegt, weiß ich keine Rechenschaft abzugeben". Hier ist nun<lb/>
ein plötzlicher, Stillstand der Vernunft klar; ward dieser Mann vielleicht<lb/>
durch irgend eine heftige, unvermuthete, in ihrer Schnelligkeit nicht reif¬<lb/>
lich durchdachte Ideencombination zu diesem tollen Schritt bewogen? Wer</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0256] zetreten. Eine Frau begegnet einer Jugendbekanntschaft; sie bildet sich ein, diese habe ihren Gruß nicht erwidert und — erstickt sich. Einem Jungen von 13 Jahren verbieten seine Eltern an einem Feiertage seine Sonntagskleider anzuziehen; diese Straft ist für ihn unerträglich; er er¬ hängt sich. Ein Lotcrie-Collectear hat das Unglück, daß unter allen bei ihm gespielten Loosen auch nicht Ein, Gewinner ist; das steigt ihm zu Kopfe und er schneidet sich mit seinen: Rasirmesser den Hals ab, und zwar mit so fester Hand, daß der Schnitt durch alle Wirbel ging. Im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts bildete sich in Rußland plötz¬ lich eine Secte schwarzgalliger Fanatiker, die alle die Sucht des Selbst¬ mordes hatten; die Einmischung der Regierung und strenge Maßregeln machten die Sache noch ärger. Da beschloß die Kaiserin Catharina, die im Grunde nicht ohne Geist war, man solle sich nicht mit ihnen beschäf¬ tigen, und ließ sie ganz nach Belieben sich die Kehle abschneiden; die Journale durften ihnen auch nicht eine Zeile widmen; und gar bald fingen diese Leute an, sehr gern beim Leben zu bleiben, sobald sie sahen, daß man ihren Tod sehr gleichgültig mit ansah. Es giebt aber auch Fälle von Selbstmord, die durchaus unbere¬ chenbar sind und welche wirklich einem plötzlichen Stillstehen der Geistes¬ kräfte im Menschen scheinen zugeschrieben werden zu müssen. Ein Bei¬ spiel davon hat man letzthin in Paris gehabt, einer herrlichen Stadt, in der man Alles findet, wenn man uur ein Bischen sucht oder Zeit hat zu warten. Ein Mann ging über den Pont-Neuf, ruhig, gleichgül¬ tig, mit den Händen in den Taschen. Auf ein Mal steigt er auf's Ge¬ länder und stürzt sich in den Strom hinab. Mau sieht es, läuft her¬ bei, fischt ihn glücklich aus dem Wasser auf und bringt ihn wieder zum Leben. Einige Tage, nachdem er gänzlich wiederhergestellt war, wagt um es, ihn über die Ursachen seiner sonderbaren Handlung zu befra¬ gen. //Ich kann keine angeben, erwidert er; meine Stellung ist eine sehr glückliche, ich habe weder gegen das Schicksal, noch gegen die Menschen ir¬ gend eine Klage zu führen; ich befinde mich vollkommen wohl, halte täglich 4 Mahlzeiten mit dem besten Appetit, verdaue sehr gut und schlafe besser. Ich erinnere mich übrigens uur meiner Ankunft auf dem Pont- Neuf und des Augenblicks, wo ich wieder zu nur kam. Von dem, was dazwischen liegt, weiß ich keine Rechenschaft abzugeben". Hier ist nun ein plötzlicher, Stillstand der Vernunft klar; ward dieser Mann vielleicht durch irgend eine heftige, unvermuthete, in ihrer Schnelligkeit nicht reif¬ lich durchdachte Ideencombination zu diesem tollen Schritt bewogen? Wer

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/256
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/256>, abgerufen am 22.12.2024.