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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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ihnen entstandenen Schulen haben durch Gewalt einer Doctrin Geltung
verschaffen wollen, die nach ihren Ansichten für das Glück der Mensch-
chcit nochwendig war. Ihr Lehrsatz heißt: Ehret das Bestehende, aber
bereitet vor das Kommende. Daher hegen auch die wahren Socialisten
keinen Haß; sie bedauern ihr Jahrhundert, aber sie lieben die Mensch-
,seit zu sehr, um die Menschen zu verabscheuen.

Dies ist der wahre Charakter des Socialismus; man erkennt ihn
,an jener Seelenheiterkeit, welche seine Adepten selbst im tiefsten Elend
nicht verläßt. Die Gerechtigkeit fordert es von uns, dies laut anzuer¬
kennen. Sie glauben auf die Welt gekommen zu sein, um zu organi-
siren, nicht um zu zerstören; und sie wissen, oder vielmehr sie fühlen
es wohl, daß der Haß einstürzt, und daß nur die Liebe allein aufbaut.
Jede socialistische Schule, die Schule, die haßt und verflucht, erniedrigt
sich zur politischen Partei; denn die Streitigkeiten des Tages sind für
sie ein Procrustus-Bett; wenn sie sich hineinmischt, so begeht sie eine
Selbstverstümmlung und beraubt sich ihrer ungeheuren Arme, die ihr
vielleicht erlaubt hätten, die Zukunft zu umfassen.

Dieses etwas große Vorwort haben wir für nöthig gehalten, um
das Urtheil zu rechtfertigen, das wir über die Lehre des Herrn Pierre
Lerour fällen wollen. Denn den Gedanken dieses Philosophen beherrscht
der Haß, der Gegenwart so stark, daß er Augenblicke lang von aller
philosophischen Höhe herabsteigt und nur noch ein politischer Schriftstel¬
ler ist. Den kleinen Leidenschaften einer Partei dienen, wenn man die
Welt umgestalten möchte, sich den Launen einer Frau beigesellen, die we¬
der für ihren Haß, noch für ihre Liebe eine Ursache kennt, wenn man das Ge¬
heimniß der Zukunft in seinen Händen zu haben glaubt, -- heißt das
nicht sich langsam und muthwillig selbst vom Leben zum Tode bringen?
Herr Pierre Lcroux versetzt seinen eigenen Principien einen unheilbrin¬
genden Stoß, indem er sie den Kämpfern der Arena in die Hände giebt,
und wäre die Waffe von demantner Härte, sie kann an einer Stahlrü¬
stung sich brechen; und dann, bildet er sich etwa ein, daß man sie ihm
nach dem Sieg wieder geben wird? Er hat sich unter das Banner
der republikanischen Partei gestellt, und doch ist er über einige Punkte
der Glaubenslehren mit dieser nicht einverstanden: wenn nun diese Par¬
tei den Sieg davon trägt, so würdeihreBesestigung und Erhaltung vom Augen¬
blick ihres Triumphes ander einzige Gegenstand ihrer Sorgfalt und Beschäf¬
tigung werden, und jeden Andersdenkenden würden sie als Ketzer, jeden
Socialisten als leeren Träumer behandeln. Man muß sich nie zu einem


ihnen entstandenen Schulen haben durch Gewalt einer Doctrin Geltung
verschaffen wollen, die nach ihren Ansichten für das Glück der Mensch-
chcit nochwendig war. Ihr Lehrsatz heißt: Ehret das Bestehende, aber
bereitet vor das Kommende. Daher hegen auch die wahren Socialisten
keinen Haß; sie bedauern ihr Jahrhundert, aber sie lieben die Mensch-
,seit zu sehr, um die Menschen zu verabscheuen.

Dies ist der wahre Charakter des Socialismus; man erkennt ihn
,an jener Seelenheiterkeit, welche seine Adepten selbst im tiefsten Elend
nicht verläßt. Die Gerechtigkeit fordert es von uns, dies laut anzuer¬
kennen. Sie glauben auf die Welt gekommen zu sein, um zu organi-
siren, nicht um zu zerstören; und sie wissen, oder vielmehr sie fühlen
es wohl, daß der Haß einstürzt, und daß nur die Liebe allein aufbaut.
Jede socialistische Schule, die Schule, die haßt und verflucht, erniedrigt
sich zur politischen Partei; denn die Streitigkeiten des Tages sind für
sie ein Procrustus-Bett; wenn sie sich hineinmischt, so begeht sie eine
Selbstverstümmlung und beraubt sich ihrer ungeheuren Arme, die ihr
vielleicht erlaubt hätten, die Zukunft zu umfassen.

Dieses etwas große Vorwort haben wir für nöthig gehalten, um
das Urtheil zu rechtfertigen, das wir über die Lehre des Herrn Pierre
Lerour fällen wollen. Denn den Gedanken dieses Philosophen beherrscht
der Haß, der Gegenwart so stark, daß er Augenblicke lang von aller
philosophischen Höhe herabsteigt und nur noch ein politischer Schriftstel¬
ler ist. Den kleinen Leidenschaften einer Partei dienen, wenn man die
Welt umgestalten möchte, sich den Launen einer Frau beigesellen, die we¬
der für ihren Haß, noch für ihre Liebe eine Ursache kennt, wenn man das Ge¬
heimniß der Zukunft in seinen Händen zu haben glaubt, — heißt das
nicht sich langsam und muthwillig selbst vom Leben zum Tode bringen?
Herr Pierre Lcroux versetzt seinen eigenen Principien einen unheilbrin¬
genden Stoß, indem er sie den Kämpfern der Arena in die Hände giebt,
und wäre die Waffe von demantner Härte, sie kann an einer Stahlrü¬
stung sich brechen; und dann, bildet er sich etwa ein, daß man sie ihm
nach dem Sieg wieder geben wird? Er hat sich unter das Banner
der republikanischen Partei gestellt, und doch ist er über einige Punkte
der Glaubenslehren mit dieser nicht einverstanden: wenn nun diese Par¬
tei den Sieg davon trägt, so würdeihreBesestigung und Erhaltung vom Augen¬
blick ihres Triumphes ander einzige Gegenstand ihrer Sorgfalt und Beschäf¬
tigung werden, und jeden Andersdenkenden würden sie als Ketzer, jeden
Socialisten als leeren Träumer behandeln. Man muß sich nie zu einem


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[0238] ihnen entstandenen Schulen haben durch Gewalt einer Doctrin Geltung verschaffen wollen, die nach ihren Ansichten für das Glück der Mensch- chcit nochwendig war. Ihr Lehrsatz heißt: Ehret das Bestehende, aber bereitet vor das Kommende. Daher hegen auch die wahren Socialisten keinen Haß; sie bedauern ihr Jahrhundert, aber sie lieben die Mensch- ,seit zu sehr, um die Menschen zu verabscheuen. Dies ist der wahre Charakter des Socialismus; man erkennt ihn ,an jener Seelenheiterkeit, welche seine Adepten selbst im tiefsten Elend nicht verläßt. Die Gerechtigkeit fordert es von uns, dies laut anzuer¬ kennen. Sie glauben auf die Welt gekommen zu sein, um zu organi- siren, nicht um zu zerstören; und sie wissen, oder vielmehr sie fühlen es wohl, daß der Haß einstürzt, und daß nur die Liebe allein aufbaut. Jede socialistische Schule, die Schule, die haßt und verflucht, erniedrigt sich zur politischen Partei; denn die Streitigkeiten des Tages sind für sie ein Procrustus-Bett; wenn sie sich hineinmischt, so begeht sie eine Selbstverstümmlung und beraubt sich ihrer ungeheuren Arme, die ihr vielleicht erlaubt hätten, die Zukunft zu umfassen. Dieses etwas große Vorwort haben wir für nöthig gehalten, um das Urtheil zu rechtfertigen, das wir über die Lehre des Herrn Pierre Lerour fällen wollen. Denn den Gedanken dieses Philosophen beherrscht der Haß, der Gegenwart so stark, daß er Augenblicke lang von aller philosophischen Höhe herabsteigt und nur noch ein politischer Schriftstel¬ ler ist. Den kleinen Leidenschaften einer Partei dienen, wenn man die Welt umgestalten möchte, sich den Launen einer Frau beigesellen, die we¬ der für ihren Haß, noch für ihre Liebe eine Ursache kennt, wenn man das Ge¬ heimniß der Zukunft in seinen Händen zu haben glaubt, — heißt das nicht sich langsam und muthwillig selbst vom Leben zum Tode bringen? Herr Pierre Lcroux versetzt seinen eigenen Principien einen unheilbrin¬ genden Stoß, indem er sie den Kämpfern der Arena in die Hände giebt, und wäre die Waffe von demantner Härte, sie kann an einer Stahlrü¬ stung sich brechen; und dann, bildet er sich etwa ein, daß man sie ihm nach dem Sieg wieder geben wird? Er hat sich unter das Banner der republikanischen Partei gestellt, und doch ist er über einige Punkte der Glaubenslehren mit dieser nicht einverstanden: wenn nun diese Par¬ tei den Sieg davon trägt, so würdeihreBesestigung und Erhaltung vom Augen¬ blick ihres Triumphes ander einzige Gegenstand ihrer Sorgfalt und Beschäf¬ tigung werden, und jeden Andersdenkenden würden sie als Ketzer, jeden Socialisten als leeren Träumer behandeln. Man muß sich nie zu einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/238>, abgerufen am 24.07.2024.