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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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133V zerbrach die vom Wiener Congreß so peinlich ausgearbeitete Com¬
bination^ was wird nun Rußlands Herrscher thun? Mehr als irgend
nner der andern Monarchen ist er bei der Frage interessirt; außer dein
politischen Gedanken des Wiener Congresses hat er auch noch das seiner
Schwester hult anheimfallende Erbtheil zu vertheidigen. Nußland, sagt
man, hat so viel Soldaten, daß es nicht weiß, was es damit machen
soll; ein Schritt seinerseits, eine Offenbarung seines Willens würde'
Preußen und Oesterreich vielleicht mit fortgerissen haben. Aber nein,
Nußland rührt sich nicht; für den ärgsten Fall ist es ja seines äußer¬
sten Mittels, Noch sicher: es schickt keine Visitenkarten; also läßt es ruhig
die Sache gehn.

Es ist wahr und wir gestehn es gemein, die polnische Revolution
die den 29. November 1830 ausbrach, d. h. 3 Monate nach dem ersten
Acte der belgischen, mußte die guten Absichten des Kaisers Nikolaus lah¬
men,-vorausgesetzt natürlich, das er überhaupt Absichten hatte. Aber
in Polen war ja mit der Einnahme von Warschau Alles den 6. De-'
zember 1831 beendigt; und in Belgien war noch nichts abgeschlossen.
Der Kaiser, der um freier Herr seiner Bewegungen geworden, wird! er
nicht jetzt endlich der Entwickelung der Folgen der belgischen Revolution
sein gebietendes Machtwort als hemmende Schranke entgegenstellen? Nein.-
So wird er sich wenigstens von der Sache ganz fern halten? Nein.
Der russische Kaiser, der die belgische Revolution verabscheut, erstens als
Revolution und dann auch, weil sie ein Mitglied seiner Familie betrifft,
nimmt an allen Unterhandlungen Theil; er nimmt in aller Wirklichkeit'
die Unabhängigkeitscrklärung vom 20. December 1830 an; sein Gesand-'
ter in London willigt in seinem Namen in Alles, unterzeichnet Alles,
und als später die belgische Nation einen König wählt, hat der Kaiser
von Nußland, der Schwager des muthmaßlichen Thronerben des alten
Königs der Niederlande auch nicht ein Wörtchen einzuwenden. Die bel¬
gische Revolution endigt zuletzt. Nußland erkennt seine Unabhängigkeit,
erkennt seinen König an, es sanctionnirt'das Werk der Revolution; aber
das ist auch das non xlus ultr" seiner Concessionen; weiter wird der
Kaiser nie gehen; Belgien wird nie einen russischen Gesandten sehen; nie,
wird er ihn: Visitenkarten schicken. Armes Belgien, wie grausam bist'
Du bestraft! Und doch scheint es seit 10 Jahren nicht im Entferntesten
daran zu denken, wie viel Schmerzliches, wie viel Demüthigendes für
es darin, liegt, und die kleine Nation von 4 Millionen Seelen, vergilt
dem Beherrscher von mehr als S0 Millionen Unterthanen Gleiches mit''


133V zerbrach die vom Wiener Congreß so peinlich ausgearbeitete Com¬
bination^ was wird nun Rußlands Herrscher thun? Mehr als irgend
nner der andern Monarchen ist er bei der Frage interessirt; außer dein
politischen Gedanken des Wiener Congresses hat er auch noch das seiner
Schwester hult anheimfallende Erbtheil zu vertheidigen. Nußland, sagt
man, hat so viel Soldaten, daß es nicht weiß, was es damit machen
soll; ein Schritt seinerseits, eine Offenbarung seines Willens würde'
Preußen und Oesterreich vielleicht mit fortgerissen haben. Aber nein,
Nußland rührt sich nicht; für den ärgsten Fall ist es ja seines äußer¬
sten Mittels, Noch sicher: es schickt keine Visitenkarten; also läßt es ruhig
die Sache gehn.

Es ist wahr und wir gestehn es gemein, die polnische Revolution
die den 29. November 1830 ausbrach, d. h. 3 Monate nach dem ersten
Acte der belgischen, mußte die guten Absichten des Kaisers Nikolaus lah¬
men,-vorausgesetzt natürlich, das er überhaupt Absichten hatte. Aber
in Polen war ja mit der Einnahme von Warschau Alles den 6. De-'
zember 1831 beendigt; und in Belgien war noch nichts abgeschlossen.
Der Kaiser, der um freier Herr seiner Bewegungen geworden, wird! er
nicht jetzt endlich der Entwickelung der Folgen der belgischen Revolution
sein gebietendes Machtwort als hemmende Schranke entgegenstellen? Nein.-
So wird er sich wenigstens von der Sache ganz fern halten? Nein.
Der russische Kaiser, der die belgische Revolution verabscheut, erstens als
Revolution und dann auch, weil sie ein Mitglied seiner Familie betrifft,
nimmt an allen Unterhandlungen Theil; er nimmt in aller Wirklichkeit'
die Unabhängigkeitscrklärung vom 20. December 1830 an; sein Gesand-'
ter in London willigt in seinem Namen in Alles, unterzeichnet Alles,
und als später die belgische Nation einen König wählt, hat der Kaiser
von Nußland, der Schwager des muthmaßlichen Thronerben des alten
Königs der Niederlande auch nicht ein Wörtchen einzuwenden. Die bel¬
gische Revolution endigt zuletzt. Nußland erkennt seine Unabhängigkeit,
erkennt seinen König an, es sanctionnirt'das Werk der Revolution; aber
das ist auch das non xlus ultr» seiner Concessionen; weiter wird der
Kaiser nie gehen; Belgien wird nie einen russischen Gesandten sehen; nie,
wird er ihn: Visitenkarten schicken. Armes Belgien, wie grausam bist'
Du bestraft! Und doch scheint es seit 10 Jahren nicht im Entferntesten
daran zu denken, wie viel Schmerzliches, wie viel Demüthigendes für
es darin, liegt, und die kleine Nation von 4 Millionen Seelen, vergilt
dem Beherrscher von mehr als S0 Millionen Unterthanen Gleiches mit''


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/124>, abgerufen am 25.08.2024.