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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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wird. Freilich ist Jean Paul, der Vertreter der Juvenilität, nur fM
die Jugend genießbar; er gleicht darin Vossen, den der Verfasser doch
so sehr ans Licht zieht; Voß taugt sür den Schüler, Jean Paul für die
empfindsame, lustige Jugend. Nur dürfen wir deswegen das Hochpoeti¬
sche seines unvergleichlichen Humors nicht verkennen. Daß er sich im
Kleinleben ergeht, ist kein Vorwurf, denn das ist die Art des Witzes,
mit jeder Ecke, mit jedem Punkte unserer Existenz an die' allgemeine
Menschennatur anzuklopfen, sich, befangen im getheilten und bedingten
Dasein, mit der unendlichen Vielheit unserer Kleinwelt nach dem Ideale
hin aufzurichten. Der Humorist muß dem unaufhaltsam lachenden Wi¬
derspruch, bis in die letzten Atome nachjagen. Jean Paul ist ein Ma¬
gazin, wie die Naturreiche. In ihm stößt schon die Poesie mit ^dem
reinen Gedanken zusammen. Gervinus Übersicht den unermeßlichen Ge¬
halt an Wahrheit und tiefer Empfindung, der in seinen Werken liegt.
Auch ist es falsch zu sagen, daß seiner Weltanschauung die Einheit ab¬
gebe. Der Humor zeigt für jeden Widerspruch die Forderung der
Einheit; real stellt er sie noch nicht dar, aber gemüthlich und ahnend
läßt er sie gewinnen. Ein gänzlicher, unbedeckter Widerspruch wäre
Bruch und Vernichtung, eine zerfahrene Verzweiflung, über die selbst
Byron, der noch schärfer als Jean Paul ist/ immer emporragt. --

Nachdem der Verfasser die Einwirkung der Wissenschaft und
Lebenszustände, und die Gattungen der Prosa, die daraus hervor¬
gehn, als theologische Romane, pädagogische, historische :c., näher be---
leuchtet hat, nimmt er in dem Abschnitt: Schiller und Göthe den
Hauptfaden wieder auf. In "Geschichte und Politik", eine Ueberschrift,
woneben sich Göthes Namen ironisch ausnimmt > verbreitete sich in
Deutschland von Herder und Lessing angefacht, der Geist des Koömöpc-
litismus, des Humanismus und der Universalität. Schiller, "in dessen
Natur überhaupt'der Fortschritt aus der ästhetischen in die historische und-
philosophische Welt vorgeschrieben lag", folgte am aufmerksamsten den
Begebenheiten des Tages. Die französische Revolution gewann nur auf
kurze Zeit die Bewunderung unserer großen Schriftsteller; das Impo¬
sante wich bald dem Entsetzen vor einer Staatszerstörung, gegen die der
Deutsche sich im Innersten empören mußte. Göthe, in allerlei Studien
dilettantisch verloren, war bereits in die "historische Ansicht" eingekehrt/
er ließ die Welt ihren Lauf gehen. Nur Forster bewahrte, den Er¬
eignissen gegenüber, eine feste Ansicht. Die neue Philosophie, von Kant,
begründet, traf, vermöge ihrer sittlichen Würde und ihrer höheren Kunst-


wird. Freilich ist Jean Paul, der Vertreter der Juvenilität, nur fM
die Jugend genießbar; er gleicht darin Vossen, den der Verfasser doch
so sehr ans Licht zieht; Voß taugt sür den Schüler, Jean Paul für die
empfindsame, lustige Jugend. Nur dürfen wir deswegen das Hochpoeti¬
sche seines unvergleichlichen Humors nicht verkennen. Daß er sich im
Kleinleben ergeht, ist kein Vorwurf, denn das ist die Art des Witzes,
mit jeder Ecke, mit jedem Punkte unserer Existenz an die' allgemeine
Menschennatur anzuklopfen, sich, befangen im getheilten und bedingten
Dasein, mit der unendlichen Vielheit unserer Kleinwelt nach dem Ideale
hin aufzurichten. Der Humorist muß dem unaufhaltsam lachenden Wi¬
derspruch, bis in die letzten Atome nachjagen. Jean Paul ist ein Ma¬
gazin, wie die Naturreiche. In ihm stößt schon die Poesie mit ^dem
reinen Gedanken zusammen. Gervinus Übersicht den unermeßlichen Ge¬
halt an Wahrheit und tiefer Empfindung, der in seinen Werken liegt.
Auch ist es falsch zu sagen, daß seiner Weltanschauung die Einheit ab¬
gebe. Der Humor zeigt für jeden Widerspruch die Forderung der
Einheit; real stellt er sie noch nicht dar, aber gemüthlich und ahnend
läßt er sie gewinnen. Ein gänzlicher, unbedeckter Widerspruch wäre
Bruch und Vernichtung, eine zerfahrene Verzweiflung, über die selbst
Byron, der noch schärfer als Jean Paul ist/ immer emporragt. —

Nachdem der Verfasser die Einwirkung der Wissenschaft und
Lebenszustände, und die Gattungen der Prosa, die daraus hervor¬
gehn, als theologische Romane, pädagogische, historische :c., näher be---
leuchtet hat, nimmt er in dem Abschnitt: Schiller und Göthe den
Hauptfaden wieder auf. In "Geschichte und Politik", eine Ueberschrift,
woneben sich Göthes Namen ironisch ausnimmt > verbreitete sich in
Deutschland von Herder und Lessing angefacht, der Geist des Koömöpc-
litismus, des Humanismus und der Universalität. Schiller, "in dessen
Natur überhaupt'der Fortschritt aus der ästhetischen in die historische und-
philosophische Welt vorgeschrieben lag", folgte am aufmerksamsten den
Begebenheiten des Tages. Die französische Revolution gewann nur auf
kurze Zeit die Bewunderung unserer großen Schriftsteller; das Impo¬
sante wich bald dem Entsetzen vor einer Staatszerstörung, gegen die der
Deutsche sich im Innersten empören mußte. Göthe, in allerlei Studien
dilettantisch verloren, war bereits in die "historische Ansicht" eingekehrt/
er ließ die Welt ihren Lauf gehen. Nur Forster bewahrte, den Er¬
eignissen gegenüber, eine feste Ansicht. Die neue Philosophie, von Kant,
begründet, traf, vermöge ihrer sittlichen Würde und ihrer höheren Kunst-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/100>, abgerufen am 23.07.2024.