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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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Beschauliche Briefe aus Oesterreich
von
3. von Z.



Sie kennen gewiß das Haus, aus welchem ich Ihnen diese
Zeilen schreibe. Vor mir liegt die Bruska mit ihren grünen An¬
höhen, die wie eine blühende Friedenshand über die alten Festungs¬
werke sich ausstreckt. Weithin blickt das Auge über die freundlichen
Inseln der Moldau; die Daliborka, das alte Denkmal böhmischen
Tongenies und die Sternwarte Tycho Brahe's sind meine Nachbarn;
unter meinem Fenster zieht eine Procession singender Landleute zu
dem Standbilde des heiligen Johannes von Nepomuk. Der Mor¬
genwind streicht über die Stadt und weckt sie zur Thätigkeit, zu neuem
Tagewerke, zur frischen Zukunft. Seit acht Tagen bin ich hier.
Ich habe von dem staubigen Wien auf zwei Monate Abschied ge¬
nommen, um Böhmen zu durchstreifen, das ich seit fünfzehn Jahren
nicht gesehen. Fünfzehn Friedensjahre verändern ein Land nicht
minder als eben so viel Kriegsjahre. Warum verlangten Sie blos
Briefe aus Wien von mir? Hat die Nähe von Paris, in der Sie
leben, Sie vielleicht vergessen lassen, daß Oestreich kein centralisir-
tes Land wie Frankreich ist, wo derjenige, der ein Bild von der
Hauptstadt gegeben hat, zugleich ein Bild deö ganzen Landes liefert?
Diese Staaten-Mosaik, die man Oestreich nennt, muß in ihren ein¬
zelnen Farben und Steinen untersucht werden. Wien ist kein Ma߬
stab für Prag. Prag ist kein Maßstab für Pesth, Pesth nicht für


Beschauliche Briefe aus Oesterreich
von
3. von Z.



Sie kennen gewiß das Haus, aus welchem ich Ihnen diese
Zeilen schreibe. Vor mir liegt die Bruska mit ihren grünen An¬
höhen, die wie eine blühende Friedenshand über die alten Festungs¬
werke sich ausstreckt. Weithin blickt das Auge über die freundlichen
Inseln der Moldau; die Daliborka, das alte Denkmal böhmischen
Tongenies und die Sternwarte Tycho Brahe's sind meine Nachbarn;
unter meinem Fenster zieht eine Procession singender Landleute zu
dem Standbilde des heiligen Johannes von Nepomuk. Der Mor¬
genwind streicht über die Stadt und weckt sie zur Thätigkeit, zu neuem
Tagewerke, zur frischen Zukunft. Seit acht Tagen bin ich hier.
Ich habe von dem staubigen Wien auf zwei Monate Abschied ge¬
nommen, um Böhmen zu durchstreifen, das ich seit fünfzehn Jahren
nicht gesehen. Fünfzehn Friedensjahre verändern ein Land nicht
minder als eben so viel Kriegsjahre. Warum verlangten Sie blos
Briefe aus Wien von mir? Hat die Nähe von Paris, in der Sie
leben, Sie vielleicht vergessen lassen, daß Oestreich kein centralisir-
tes Land wie Frankreich ist, wo derjenige, der ein Bild von der
Hauptstadt gegeben hat, zugleich ein Bild deö ganzen Landes liefert?
Diese Staaten-Mosaik, die man Oestreich nennt, muß in ihren ein¬
zelnen Farben und Steinen untersucht werden. Wien ist kein Ma߬
stab für Prag. Prag ist kein Maßstab für Pesth, Pesth nicht für


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[0081] Beschauliche Briefe aus Oesterreich von 3. von Z. Sie kennen gewiß das Haus, aus welchem ich Ihnen diese Zeilen schreibe. Vor mir liegt die Bruska mit ihren grünen An¬ höhen, die wie eine blühende Friedenshand über die alten Festungs¬ werke sich ausstreckt. Weithin blickt das Auge über die freundlichen Inseln der Moldau; die Daliborka, das alte Denkmal böhmischen Tongenies und die Sternwarte Tycho Brahe's sind meine Nachbarn; unter meinem Fenster zieht eine Procession singender Landleute zu dem Standbilde des heiligen Johannes von Nepomuk. Der Mor¬ genwind streicht über die Stadt und weckt sie zur Thätigkeit, zu neuem Tagewerke, zur frischen Zukunft. Seit acht Tagen bin ich hier. Ich habe von dem staubigen Wien auf zwei Monate Abschied ge¬ nommen, um Böhmen zu durchstreifen, das ich seit fünfzehn Jahren nicht gesehen. Fünfzehn Friedensjahre verändern ein Land nicht minder als eben so viel Kriegsjahre. Warum verlangten Sie blos Briefe aus Wien von mir? Hat die Nähe von Paris, in der Sie leben, Sie vielleicht vergessen lassen, daß Oestreich kein centralisir- tes Land wie Frankreich ist, wo derjenige, der ein Bild von der Hauptstadt gegeben hat, zugleich ein Bild deö ganzen Landes liefert? Diese Staaten-Mosaik, die man Oestreich nennt, muß in ihren ein¬ zelnen Farben und Steinen untersucht werden. Wien ist kein Ma߬ stab für Prag. Prag ist kein Maßstab für Pesth, Pesth nicht für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/81>, abgerufen am 23.07.2024.