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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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neuern Einrichtungen und Veränderungen interessiren, von, denen
wir in den letzten drei Jahren Zeuge gewesen sind.

Der Gesichtspunkt, den wir bei den nachfolgenden BnnertmigM
zu beobachten haben, muß vornehmlich ein politischer sein; namentlich
müssen wir die Unterrichtsfreiheit, deren Belgien genießt, in ihre"
Beziehungen zum Staate, sowie das Eingreifen und die Rückwirkung
des letztem auf jene betrachten. Die Unabhängigkeit des Unterrichts
ist eine der Institutionen, die bis jetzt kein Land in der Art und in
dem Umfange wie Belgien besitzt, und, worauf noch mehr Gewicht zu
legen, die keines in dem Maße, wie es hier geschehen ist, zur An¬
wendung gebracht hat. Frankreich gehorcht auch auf diesem wichtigen
Gebiet geistigen und gesellschaftlichen Lebens seinem politischen Grund¬
satz, der Macht der Centralisation; seine Lehranstalten sind Vasallen
der Pariser Universität. In Frankreich wählt die freie und offene
Lehre nicht den zwar mühsamen, aber desto tiefer dringenden Weg
durch Classen und Hörsäle; sie zielt auf schnellere und wcitergrei-
sende Wirkung ab, durch die Zeitblätter. Die einflußreichste Schule
des französischen Volkes wird von den Tagesfchriftstellern unterhal¬
ten; die Lehre hält sich durch die Presse für die Hemmnisse und
Mängel schadlos, die sie auf ihrem eignen und nächsten Felde erlei¬
det. In England b:steht zwar das Lehrwesen im Allgemeinen vom
Staate ganz unabhängig, mit der Ausnahme, daß die Stiftung
von Universitäten, wie die der Londoner, einer Genehmigung des
Parlaments bedarf. Doch wird in diesem Lande die freie Entwick¬
lung des höhern Schulwesens durch den positiven und stabilen Geist
gehindert, der grade die Wissenschaften, welche auf den Unterricht
am stärksten einwirken, die.Theologie und Philosophie, beherrscht.
Unter der Aegide der Bischöfe, unter herkömmlichen Satzungen und
vererbten Patronaten haben die großen englischen Lehranstalten
einen durchaus traditionellen Charakter angenommen. Was den
Volksunterricht in England betrifft, so ist er bekanntlich, verlasse"
von der Staatsverwaltung, im elendesten Zustande. Nach Herr"
von Raumer's Angaben bleibt dort noch über die Hälfte des niedern
Volks von aller Unterweisung ausgeschlossen; bet dem Volke ist es
ja ein dringenderes Bedürfniß, die Jugend so früh und so lange
Zeit des Tantes als möglich und erlaubt ist, in die Fabriksäle zu
schicken. Ganz anders verhält eS sich in Belgien. Hier hat die


neuern Einrichtungen und Veränderungen interessiren, von, denen
wir in den letzten drei Jahren Zeuge gewesen sind.

Der Gesichtspunkt, den wir bei den nachfolgenden BnnertmigM
zu beobachten haben, muß vornehmlich ein politischer sein; namentlich
müssen wir die Unterrichtsfreiheit, deren Belgien genießt, in ihre»
Beziehungen zum Staate, sowie das Eingreifen und die Rückwirkung
des letztem auf jene betrachten. Die Unabhängigkeit des Unterrichts
ist eine der Institutionen, die bis jetzt kein Land in der Art und in
dem Umfange wie Belgien besitzt, und, worauf noch mehr Gewicht zu
legen, die keines in dem Maße, wie es hier geschehen ist, zur An¬
wendung gebracht hat. Frankreich gehorcht auch auf diesem wichtigen
Gebiet geistigen und gesellschaftlichen Lebens seinem politischen Grund¬
satz, der Macht der Centralisation; seine Lehranstalten sind Vasallen
der Pariser Universität. In Frankreich wählt die freie und offene
Lehre nicht den zwar mühsamen, aber desto tiefer dringenden Weg
durch Classen und Hörsäle; sie zielt auf schnellere und wcitergrei-
sende Wirkung ab, durch die Zeitblätter. Die einflußreichste Schule
des französischen Volkes wird von den Tagesfchriftstellern unterhal¬
ten; die Lehre hält sich durch die Presse für die Hemmnisse und
Mängel schadlos, die sie auf ihrem eignen und nächsten Felde erlei¬
det. In England b:steht zwar das Lehrwesen im Allgemeinen vom
Staate ganz unabhängig, mit der Ausnahme, daß die Stiftung
von Universitäten, wie die der Londoner, einer Genehmigung des
Parlaments bedarf. Doch wird in diesem Lande die freie Entwick¬
lung des höhern Schulwesens durch den positiven und stabilen Geist
gehindert, der grade die Wissenschaften, welche auf den Unterricht
am stärksten einwirken, die.Theologie und Philosophie, beherrscht.
Unter der Aegide der Bischöfe, unter herkömmlichen Satzungen und
vererbten Patronaten haben die großen englischen Lehranstalten
einen durchaus traditionellen Charakter angenommen. Was den
Volksunterricht in England betrifft, so ist er bekanntlich, verlasse»
von der Staatsverwaltung, im elendesten Zustande. Nach Herr»
von Raumer's Angaben bleibt dort noch über die Hälfte des niedern
Volks von aller Unterweisung ausgeschlossen; bet dem Volke ist es
ja ein dringenderes Bedürfniß, die Jugend so früh und so lange
Zeit des Tantes als möglich und erlaubt ist, in die Fabriksäle zu
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[0068] neuern Einrichtungen und Veränderungen interessiren, von, denen wir in den letzten drei Jahren Zeuge gewesen sind. Der Gesichtspunkt, den wir bei den nachfolgenden BnnertmigM zu beobachten haben, muß vornehmlich ein politischer sein; namentlich müssen wir die Unterrichtsfreiheit, deren Belgien genießt, in ihre» Beziehungen zum Staate, sowie das Eingreifen und die Rückwirkung des letztem auf jene betrachten. Die Unabhängigkeit des Unterrichts ist eine der Institutionen, die bis jetzt kein Land in der Art und in dem Umfange wie Belgien besitzt, und, worauf noch mehr Gewicht zu legen, die keines in dem Maße, wie es hier geschehen ist, zur An¬ wendung gebracht hat. Frankreich gehorcht auch auf diesem wichtigen Gebiet geistigen und gesellschaftlichen Lebens seinem politischen Grund¬ satz, der Macht der Centralisation; seine Lehranstalten sind Vasallen der Pariser Universität. In Frankreich wählt die freie und offene Lehre nicht den zwar mühsamen, aber desto tiefer dringenden Weg durch Classen und Hörsäle; sie zielt auf schnellere und wcitergrei- sende Wirkung ab, durch die Zeitblätter. Die einflußreichste Schule des französischen Volkes wird von den Tagesfchriftstellern unterhal¬ ten; die Lehre hält sich durch die Presse für die Hemmnisse und Mängel schadlos, die sie auf ihrem eignen und nächsten Felde erlei¬ det. In England b:steht zwar das Lehrwesen im Allgemeinen vom Staate ganz unabhängig, mit der Ausnahme, daß die Stiftung von Universitäten, wie die der Londoner, einer Genehmigung des Parlaments bedarf. Doch wird in diesem Lande die freie Entwick¬ lung des höhern Schulwesens durch den positiven und stabilen Geist gehindert, der grade die Wissenschaften, welche auf den Unterricht am stärksten einwirken, die.Theologie und Philosophie, beherrscht. Unter der Aegide der Bischöfe, unter herkömmlichen Satzungen und vererbten Patronaten haben die großen englischen Lehranstalten einen durchaus traditionellen Charakter angenommen. Was den Volksunterricht in England betrifft, so ist er bekanntlich, verlasse» von der Staatsverwaltung, im elendesten Zustande. Nach Herr» von Raumer's Angaben bleibt dort noch über die Hälfte des niedern Volks von aller Unterweisung ausgeschlossen; bet dem Volke ist es ja ein dringenderes Bedürfniß, die Jugend so früh und so lange Zeit des Tantes als möglich und erlaubt ist, in die Fabriksäle zu schicken. Ganz anders verhält eS sich in Belgien. Hier hat die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/68>, abgerufen am 23.07.2024.