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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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den. Aber gerade diese Erinnerung machte die Angst noch lebendiger.
Um den Coloß ein erstes Mal zu stürzen, hatte es schon eines au¬
ßerordentlichen Zusammentreffens von Umständen und, was von noch
größerer Bedeutung war, einer solchen Vereinigung und Gleichheit
der Gefühle und Gedanken so vieler und so verschiedenartiger Völker
bedurft, wodurch die Kraft eines jeden Einzelnen verzehnfacht wor¬
den. Jetzt nun beobachtete man einander, und man sah nur Eines
als Wirklichkeit und mit Gewißheit voraus; nämlich die Wiederkehr
all jener Uebel, von denen man schon für immer befreit zu sein
glaubte.

Unter diesen so ernstschweren Verhältnissen entwickelte Herr
v. Talleyrand eine Geschicklichkeit und eine Willenskraft, wodurch
es ihm gelang, Alles mit sich fortzureißen. Nie war eine Rolle
schwieriger gewesen; denn er stand jetzt zugleich der Regierung des
Landes, das er repräsentirte, dem Lande selbst, dessen Interessen und
Nationalität er retten wollte und den feindlichen Mächten gegen¬
über, welche Napoleon und Frankreich, das ihn so günstig aufge¬
nommen hatte, mit ein und demselben Bannstrahle bedrohten. Ich
war zur Zeit der ersten Revolution nicht in Paris; ich habe daher
sein Benehmen in jener Epoche nur durch die, oft lügenhaften Be¬
richte der Zeitgenossen kennen gelernt. Aber in Wien war ich Augen¬
zeuge von dem, was er im März des Jahres 1815 für sein Land
und für die Bourbons that, und ich stehe keinen Augenblick an zu
erklären, daß, wenn letztere ihm ein zweites Mal die Krone ver¬
dankten, Frankreich ihm vielleicht sein Fortbestehen als Nation ver¬
dankt. Er hatte mit feinem feinen Takte begriffen, daß diese beiden
tiefinnig mit einander zusammenhingen und eines aus dem
andern flössen. Daher rührte denn sein Benehmen und seine Be¬
mühungen, die berühmte Erklärung vom 31. März herbeizuführen.

Hier findet nun dieses so vielbesprochene, so mannigfach beur¬
theilte Aktenstück seinen Platz. Die Aufregung hatte in Wien den
höchsten Grad erreicht und wurde durch die Aussicht auf einen blu¬
tigen Krieg nur noch gesteigert. Der Enthusiasmus, den Napoleons
Gegenwart erregt hatte, die Aufnahme, die ihm von der Bevölke¬
rung zu Theil geworden, die so natürliche Weigerung der Armee,
gegen ihn zu kämpfen, dies Alles machte, daß man die ganze fran¬
zösische Nation als Mitschuldige am Bruche des so viel ersehnten


den. Aber gerade diese Erinnerung machte die Angst noch lebendiger.
Um den Coloß ein erstes Mal zu stürzen, hatte es schon eines au¬
ßerordentlichen Zusammentreffens von Umständen und, was von noch
größerer Bedeutung war, einer solchen Vereinigung und Gleichheit
der Gefühle und Gedanken so vieler und so verschiedenartiger Völker
bedurft, wodurch die Kraft eines jeden Einzelnen verzehnfacht wor¬
den. Jetzt nun beobachtete man einander, und man sah nur Eines
als Wirklichkeit und mit Gewißheit voraus; nämlich die Wiederkehr
all jener Uebel, von denen man schon für immer befreit zu sein
glaubte.

Unter diesen so ernstschweren Verhältnissen entwickelte Herr
v. Talleyrand eine Geschicklichkeit und eine Willenskraft, wodurch
es ihm gelang, Alles mit sich fortzureißen. Nie war eine Rolle
schwieriger gewesen; denn er stand jetzt zugleich der Regierung des
Landes, das er repräsentirte, dem Lande selbst, dessen Interessen und
Nationalität er retten wollte und den feindlichen Mächten gegen¬
über, welche Napoleon und Frankreich, das ihn so günstig aufge¬
nommen hatte, mit ein und demselben Bannstrahle bedrohten. Ich
war zur Zeit der ersten Revolution nicht in Paris; ich habe daher
sein Benehmen in jener Epoche nur durch die, oft lügenhaften Be¬
richte der Zeitgenossen kennen gelernt. Aber in Wien war ich Augen¬
zeuge von dem, was er im März des Jahres 1815 für sein Land
und für die Bourbons that, und ich stehe keinen Augenblick an zu
erklären, daß, wenn letztere ihm ein zweites Mal die Krone ver¬
dankten, Frankreich ihm vielleicht sein Fortbestehen als Nation ver¬
dankt. Er hatte mit feinem feinen Takte begriffen, daß diese beiden
tiefinnig mit einander zusammenhingen und eines aus dem
andern flössen. Daher rührte denn sein Benehmen und seine Be¬
mühungen, die berühmte Erklärung vom 31. März herbeizuführen.

Hier findet nun dieses so vielbesprochene, so mannigfach beur¬
theilte Aktenstück seinen Platz. Die Aufregung hatte in Wien den
höchsten Grad erreicht und wurde durch die Aussicht auf einen blu¬
tigen Krieg nur noch gesteigert. Der Enthusiasmus, den Napoleons
Gegenwart erregt hatte, die Aufnahme, die ihm von der Bevölke¬
rung zu Theil geworden, die so natürliche Weigerung der Armee,
gegen ihn zu kämpfen, dies Alles machte, daß man die ganze fran¬
zösische Nation als Mitschuldige am Bruche des so viel ersehnten


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[0525] den. Aber gerade diese Erinnerung machte die Angst noch lebendiger. Um den Coloß ein erstes Mal zu stürzen, hatte es schon eines au¬ ßerordentlichen Zusammentreffens von Umständen und, was von noch größerer Bedeutung war, einer solchen Vereinigung und Gleichheit der Gefühle und Gedanken so vieler und so verschiedenartiger Völker bedurft, wodurch die Kraft eines jeden Einzelnen verzehnfacht wor¬ den. Jetzt nun beobachtete man einander, und man sah nur Eines als Wirklichkeit und mit Gewißheit voraus; nämlich die Wiederkehr all jener Uebel, von denen man schon für immer befreit zu sein glaubte. Unter diesen so ernstschweren Verhältnissen entwickelte Herr v. Talleyrand eine Geschicklichkeit und eine Willenskraft, wodurch es ihm gelang, Alles mit sich fortzureißen. Nie war eine Rolle schwieriger gewesen; denn er stand jetzt zugleich der Regierung des Landes, das er repräsentirte, dem Lande selbst, dessen Interessen und Nationalität er retten wollte und den feindlichen Mächten gegen¬ über, welche Napoleon und Frankreich, das ihn so günstig aufge¬ nommen hatte, mit ein und demselben Bannstrahle bedrohten. Ich war zur Zeit der ersten Revolution nicht in Paris; ich habe daher sein Benehmen in jener Epoche nur durch die, oft lügenhaften Be¬ richte der Zeitgenossen kennen gelernt. Aber in Wien war ich Augen¬ zeuge von dem, was er im März des Jahres 1815 für sein Land und für die Bourbons that, und ich stehe keinen Augenblick an zu erklären, daß, wenn letztere ihm ein zweites Mal die Krone ver¬ dankten, Frankreich ihm vielleicht sein Fortbestehen als Nation ver¬ dankt. Er hatte mit feinem feinen Takte begriffen, daß diese beiden tiefinnig mit einander zusammenhingen und eines aus dem andern flössen. Daher rührte denn sein Benehmen und seine Be¬ mühungen, die berühmte Erklärung vom 31. März herbeizuführen. Hier findet nun dieses so vielbesprochene, so mannigfach beur¬ theilte Aktenstück seinen Platz. Die Aufregung hatte in Wien den höchsten Grad erreicht und wurde durch die Aussicht auf einen blu¬ tigen Krieg nur noch gesteigert. Der Enthusiasmus, den Napoleons Gegenwart erregt hatte, die Aufnahme, die ihm von der Bevölke¬ rung zu Theil geworden, die so natürliche Weigerung der Armee, gegen ihn zu kämpfen, dies Alles machte, daß man die ganze fran¬ zösische Nation als Mitschuldige am Bruche des so viel ersehnten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/525>, abgerufen am 26.08.2024.