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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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Wir haben vorhin einer Irren erwähnt, die aus Gründen an
einen Pfahl befestigt war. Diese Unglückliche hielt ihr Gesangbuch
in den Händen und schien, ehe der Unterricht begann, gegen Alles,
was um sie her vorging, stumpf und gleichgültig. Aber bei den
ersten Tönen, die auf der Orgel angeschlagen wurden, schienen ihre
geistigen Kräfte gleichsam aus dein Schlummer zu erwachen; sie sang
mit der ganzen Classe mit; es war dies aber für ihre außerordent¬
lich reizbare Empfindsamkeit zu wenig. Nach Beendigung der Chor-
gcsnnge nahm sie allein den musikalischen Gedanken des letzten wie¬
der auf und sang ihn vor sich hin mit leiser Stimme, so daß wir,
die in ihrer Nähe standen und sie mit gespannter Aufmerksamkeit
beobachteten, es hören konnten. Darauf küßte sie ihr Buch, als ei¬
nen. Quell der Harmonie und der Melodien, und begann von
Neuem, aber noch leiser, nur wie ein fernes, schwaches Echo, ihren
Gesang.

Als dann Geraldy mit seiner sanften und doch so schmetternden
Stimme sang, sog sie förmlich mit allen Poren die Tone ein. Als
die komische Arie des Wunderdoctors aus'dem Liebestrank zu Ende
war, äußerte Meyerbeer, der vor dieser plötzlich mit Leben beseelten
Statue bewundernd dastand, daß, wenn es ihm möglich wäre, seine
Kunst noch mehr zu lieben, er es thun würde, da er gesehen, wie
die Musik die schrecklichste aller menschlichen Leiden in so hohem
Grade zu mildern im Stande sei. Während dieser Worte drangen
plötzlich schwache Töne, aber ganz richtig gesungen, in unser Ohr ;
es war die an den Pfahl befestigte Irre, die den komischen Refrain
aus dem Liede des Wunderdoctors:


"Des Wahnsinns grause Wuth
Und selbst, und selbst -- Zahnschmerzen."

so Worte, wie Melodie, in derselben Tonart, in demselben Zeit¬
maß wie Geraldy sang. An ihren Pfahl festgebunden und zu
starrer Unbeweglichkeit gezwungen, erinnerte sie an die harmonische
Memnonssäule, die ja bekanntlich, wenn sie der erste Morgensonnen-
strahl trifft, einen verschwimmend melodischen Ton von sich giebt

Die Bewohner des Orients halten einen Irren für ein geheilig¬
tes Wesen und glauben, seine Nähe sei Glück und Heil bringend.
Diesem Vorurtheck verdanke-? es die Wahnsinnigen jener Gegenden,
daß man sie nicht aus dem Schooß der Gesellschaft verbannt, noch


Wir haben vorhin einer Irren erwähnt, die aus Gründen an
einen Pfahl befestigt war. Diese Unglückliche hielt ihr Gesangbuch
in den Händen und schien, ehe der Unterricht begann, gegen Alles,
was um sie her vorging, stumpf und gleichgültig. Aber bei den
ersten Tönen, die auf der Orgel angeschlagen wurden, schienen ihre
geistigen Kräfte gleichsam aus dein Schlummer zu erwachen; sie sang
mit der ganzen Classe mit; es war dies aber für ihre außerordent¬
lich reizbare Empfindsamkeit zu wenig. Nach Beendigung der Chor-
gcsnnge nahm sie allein den musikalischen Gedanken des letzten wie¬
der auf und sang ihn vor sich hin mit leiser Stimme, so daß wir,
die in ihrer Nähe standen und sie mit gespannter Aufmerksamkeit
beobachteten, es hören konnten. Darauf küßte sie ihr Buch, als ei¬
nen. Quell der Harmonie und der Melodien, und begann von
Neuem, aber noch leiser, nur wie ein fernes, schwaches Echo, ihren
Gesang.

Als dann Geraldy mit seiner sanften und doch so schmetternden
Stimme sang, sog sie förmlich mit allen Poren die Tone ein. Als
die komische Arie des Wunderdoctors aus'dem Liebestrank zu Ende
war, äußerte Meyerbeer, der vor dieser plötzlich mit Leben beseelten
Statue bewundernd dastand, daß, wenn es ihm möglich wäre, seine
Kunst noch mehr zu lieben, er es thun würde, da er gesehen, wie
die Musik die schrecklichste aller menschlichen Leiden in so hohem
Grade zu mildern im Stande sei. Während dieser Worte drangen
plötzlich schwache Töne, aber ganz richtig gesungen, in unser Ohr ;
es war die an den Pfahl befestigte Irre, die den komischen Refrain
aus dem Liede des Wunderdoctors:


„Des Wahnsinns grause Wuth
Und selbst, und selbst — Zahnschmerzen."

so Worte, wie Melodie, in derselben Tonart, in demselben Zeit¬
maß wie Geraldy sang. An ihren Pfahl festgebunden und zu
starrer Unbeweglichkeit gezwungen, erinnerte sie an die harmonische
Memnonssäule, die ja bekanntlich, wenn sie der erste Morgensonnen-
strahl trifft, einen verschwimmend melodischen Ton von sich giebt

Die Bewohner des Orients halten einen Irren für ein geheilig¬
tes Wesen und glauben, seine Nähe sei Glück und Heil bringend.
Diesem Vorurtheck verdanke-? es die Wahnsinnigen jener Gegenden,
daß man sie nicht aus dem Schooß der Gesellschaft verbannt, noch


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[0484] Wir haben vorhin einer Irren erwähnt, die aus Gründen an einen Pfahl befestigt war. Diese Unglückliche hielt ihr Gesangbuch in den Händen und schien, ehe der Unterricht begann, gegen Alles, was um sie her vorging, stumpf und gleichgültig. Aber bei den ersten Tönen, die auf der Orgel angeschlagen wurden, schienen ihre geistigen Kräfte gleichsam aus dein Schlummer zu erwachen; sie sang mit der ganzen Classe mit; es war dies aber für ihre außerordent¬ lich reizbare Empfindsamkeit zu wenig. Nach Beendigung der Chor- gcsnnge nahm sie allein den musikalischen Gedanken des letzten wie¬ der auf und sang ihn vor sich hin mit leiser Stimme, so daß wir, die in ihrer Nähe standen und sie mit gespannter Aufmerksamkeit beobachteten, es hören konnten. Darauf küßte sie ihr Buch, als ei¬ nen. Quell der Harmonie und der Melodien, und begann von Neuem, aber noch leiser, nur wie ein fernes, schwaches Echo, ihren Gesang. Als dann Geraldy mit seiner sanften und doch so schmetternden Stimme sang, sog sie förmlich mit allen Poren die Tone ein. Als die komische Arie des Wunderdoctors aus'dem Liebestrank zu Ende war, äußerte Meyerbeer, der vor dieser plötzlich mit Leben beseelten Statue bewundernd dastand, daß, wenn es ihm möglich wäre, seine Kunst noch mehr zu lieben, er es thun würde, da er gesehen, wie die Musik die schrecklichste aller menschlichen Leiden in so hohem Grade zu mildern im Stande sei. Während dieser Worte drangen plötzlich schwache Töne, aber ganz richtig gesungen, in unser Ohr ; es war die an den Pfahl befestigte Irre, die den komischen Refrain aus dem Liede des Wunderdoctors: „Des Wahnsinns grause Wuth Und selbst, und selbst — Zahnschmerzen." so Worte, wie Melodie, in derselben Tonart, in demselben Zeit¬ maß wie Geraldy sang. An ihren Pfahl festgebunden und zu starrer Unbeweglichkeit gezwungen, erinnerte sie an die harmonische Memnonssäule, die ja bekanntlich, wenn sie der erste Morgensonnen- strahl trifft, einen verschwimmend melodischen Ton von sich giebt Die Bewohner des Orients halten einen Irren für ein geheilig¬ tes Wesen und glauben, seine Nähe sei Glück und Heil bringend. Diesem Vorurtheck verdanke-? es die Wahnsinnigen jener Gegenden, daß man sie nicht aus dem Schooß der Gesellschaft verbannt, noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/484>, abgerufen am 26.08.2024.