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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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bewerkstelligt und die armen gesunkenen Wesen aus ihrer unwill¬
kürlichen Ermednaung um Etwas herausgehoben hat!

Im Hintergrunde dieses zugleich zum Speisezimmer dienenden
Arbeitssaales, erhebt sich ein hohes hölzernes Geländer; hinter die¬
sem befindet sich die erste Classe der Gesangschule. Etwa hundert
Irre kamen daselbst zusammen; unter ihnen befand sich der ganze
Arbeitssaal der Filzschuhfabrik. Es gab da Tolle, die fast wieder
zur Vernunft gebracht waren; eS gab aber auch andere aus der
Elasse der Unheilbaren. Eine von ihnen, die unter die Gattung
derer gehörte, welche in ihren wahnsinnigen Augenblicken Alles zer¬
reißen, was ihnen in die Hände fällt, war gerade in der Mitte des
UnterrichtSlocales an einen Pfahl gebunden. Ihr Wahnsinn hat
außer jener Zerstörungslust nichts Gefährliches, aber sie vergißt sich
zu Berirrnngen, welche die Feder nicht beschreiben darf.

Dem Musikunterricht in der Salpetriere widmet ein junger
Gesanglehrer unentgeldlich einen Theil seiner Zeit. Als die Musik
ein Element in der Behandlung der Irren werden sollte, hatte I),-.
Trolat sich zu diesem Zwecke den durch die Composition Beranger-
scher Chansons berühmten Bocquillon Wilden zugesellt. Dieser
aber war zu zart und empfindsam, um diese gern übernommene Auf¬
gabe aus die Länge durchzuführen. Seinem Schüler Herrn Drey-
fuß, der es an gutem Willen ihm gleich that, hat die Natur zugleich
auch stärkere Nerven verliehen.

Auf das erste Zeichen, das er gab, begannen die elementaren
Uebungen, wie sie in den Gesangschulen, die auf dem Systeme des
wechselseitigen Unterrichts beruhen, Statt finden; dann wurde" Kir¬
chengesänge mit Begleitung der Orgel ausgeführt. Dabei sangen
denn alle Zöglinge, die Unheilbaren mit eingeschlossen, mit vollstän¬
diger Beobachtung aller Gesetze der Rhythmik und Harmonie. Wäh¬
rend dieser ganzen ersten Sitzung, die ungefähr eine Stunde dauerte,
bemerkten wir, trotz der strengsten Beobachtung, -- und das
ist der wesentlichste Punkt -- auch nicht eine Bewegung des Wahn--
sinus, auch nicht ein Zeichen der Tollheit; ja nicht einmal daS ge¬
ringste Merkmal auch nur der Ungeduld nahmen wir wahr. Am
Schluß des letzten Ensemble-Stückes bat Dr. Trolat eine seiner
Kranken, sie möchte uns doch eine Romanze singen und diese ge¬
horchte ihm ohne alles Zaudern. Wird man uns daS Folgende


bewerkstelligt und die armen gesunkenen Wesen aus ihrer unwill¬
kürlichen Ermednaung um Etwas herausgehoben hat!

Im Hintergrunde dieses zugleich zum Speisezimmer dienenden
Arbeitssaales, erhebt sich ein hohes hölzernes Geländer; hinter die¬
sem befindet sich die erste Classe der Gesangschule. Etwa hundert
Irre kamen daselbst zusammen; unter ihnen befand sich der ganze
Arbeitssaal der Filzschuhfabrik. Es gab da Tolle, die fast wieder
zur Vernunft gebracht waren; eS gab aber auch andere aus der
Elasse der Unheilbaren. Eine von ihnen, die unter die Gattung
derer gehörte, welche in ihren wahnsinnigen Augenblicken Alles zer¬
reißen, was ihnen in die Hände fällt, war gerade in der Mitte des
UnterrichtSlocales an einen Pfahl gebunden. Ihr Wahnsinn hat
außer jener Zerstörungslust nichts Gefährliches, aber sie vergißt sich
zu Berirrnngen, welche die Feder nicht beschreiben darf.

Dem Musikunterricht in der Salpetriere widmet ein junger
Gesanglehrer unentgeldlich einen Theil seiner Zeit. Als die Musik
ein Element in der Behandlung der Irren werden sollte, hatte I),-.
Trolat sich zu diesem Zwecke den durch die Composition Beranger-
scher Chansons berühmten Bocquillon Wilden zugesellt. Dieser
aber war zu zart und empfindsam, um diese gern übernommene Auf¬
gabe aus die Länge durchzuführen. Seinem Schüler Herrn Drey-
fuß, der es an gutem Willen ihm gleich that, hat die Natur zugleich
auch stärkere Nerven verliehen.

Auf das erste Zeichen, das er gab, begannen die elementaren
Uebungen, wie sie in den Gesangschulen, die auf dem Systeme des
wechselseitigen Unterrichts beruhen, Statt finden; dann wurde» Kir¬
chengesänge mit Begleitung der Orgel ausgeführt. Dabei sangen
denn alle Zöglinge, die Unheilbaren mit eingeschlossen, mit vollstän¬
diger Beobachtung aller Gesetze der Rhythmik und Harmonie. Wäh¬
rend dieser ganzen ersten Sitzung, die ungefähr eine Stunde dauerte,
bemerkten wir, trotz der strengsten Beobachtung, — und das
ist der wesentlichste Punkt — auch nicht eine Bewegung des Wahn--
sinus, auch nicht ein Zeichen der Tollheit; ja nicht einmal daS ge¬
ringste Merkmal auch nur der Ungeduld nahmen wir wahr. Am
Schluß des letzten Ensemble-Stückes bat Dr. Trolat eine seiner
Kranken, sie möchte uns doch eine Romanze singen und diese ge¬
horchte ihm ohne alles Zaudern. Wird man uns daS Folgende


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[0482] bewerkstelligt und die armen gesunkenen Wesen aus ihrer unwill¬ kürlichen Ermednaung um Etwas herausgehoben hat! Im Hintergrunde dieses zugleich zum Speisezimmer dienenden Arbeitssaales, erhebt sich ein hohes hölzernes Geländer; hinter die¬ sem befindet sich die erste Classe der Gesangschule. Etwa hundert Irre kamen daselbst zusammen; unter ihnen befand sich der ganze Arbeitssaal der Filzschuhfabrik. Es gab da Tolle, die fast wieder zur Vernunft gebracht waren; eS gab aber auch andere aus der Elasse der Unheilbaren. Eine von ihnen, die unter die Gattung derer gehörte, welche in ihren wahnsinnigen Augenblicken Alles zer¬ reißen, was ihnen in die Hände fällt, war gerade in der Mitte des UnterrichtSlocales an einen Pfahl gebunden. Ihr Wahnsinn hat außer jener Zerstörungslust nichts Gefährliches, aber sie vergißt sich zu Berirrnngen, welche die Feder nicht beschreiben darf. Dem Musikunterricht in der Salpetriere widmet ein junger Gesanglehrer unentgeldlich einen Theil seiner Zeit. Als die Musik ein Element in der Behandlung der Irren werden sollte, hatte I),-. Trolat sich zu diesem Zwecke den durch die Composition Beranger- scher Chansons berühmten Bocquillon Wilden zugesellt. Dieser aber war zu zart und empfindsam, um diese gern übernommene Auf¬ gabe aus die Länge durchzuführen. Seinem Schüler Herrn Drey- fuß, der es an gutem Willen ihm gleich that, hat die Natur zugleich auch stärkere Nerven verliehen. Auf das erste Zeichen, das er gab, begannen die elementaren Uebungen, wie sie in den Gesangschulen, die auf dem Systeme des wechselseitigen Unterrichts beruhen, Statt finden; dann wurde» Kir¬ chengesänge mit Begleitung der Orgel ausgeführt. Dabei sangen denn alle Zöglinge, die Unheilbaren mit eingeschlossen, mit vollstän¬ diger Beobachtung aller Gesetze der Rhythmik und Harmonie. Wäh¬ rend dieser ganzen ersten Sitzung, die ungefähr eine Stunde dauerte, bemerkten wir, trotz der strengsten Beobachtung, — und das ist der wesentlichste Punkt — auch nicht eine Bewegung des Wahn-- sinus, auch nicht ein Zeichen der Tollheit; ja nicht einmal daS ge¬ ringste Merkmal auch nur der Ungeduld nahmen wir wahr. Am Schluß des letzten Ensemble-Stückes bat Dr. Trolat eine seiner Kranken, sie möchte uns doch eine Romanze singen und diese ge¬ horchte ihm ohne alles Zaudern. Wird man uns daS Folgende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/482>, abgerufen am 26.08.2024.