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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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rungen ausdehnen; der Schatten der ihrigen überragt sie doch. Ja,
die Industrie kann noch nicht das letzte Wort der Zukunft sein;
nein, so oft wir dies auch gedacht haben mögen, unsere Eisenbahnen
sind nicht unsere Kathedralen. Der Odem deS Geistes, der einst
diese Granitmassen formte, weht noch aus diesen Steinen heraus,
die Gesellschaft, welche so edle Monumente zu erbauen verstand, hat
uns in ihnen ihre Seele hinterlassen. Wenn aber jetzt ein Sturm
das Feuer ausbliese, das unseren heutigen künstlichen Eisenbahnen,
worauf wir so stolz sind, seine Nahrung giebt, was würde dann
übrig bleiben? Skelette, die beim geringsten Anstoß zu Staub zer¬
fallen. Und ist das Alles, was uns überleben soll? Wann wird sich
das Lebenöprincip, dqS sich in uns bewegt, von seiner irdischen, ver¬
gänglichen Form losmachen? Wann werden wir unsern Tempel
bauen?

In Erwartung dieser geistigeren Zukunft unserer Architektur
restauriren wir und thun gut daran. Dieser sieberartig um sich
greifenden Lust an der Rehabilitation der Vergangenheit verdanken
wir es, daß die Meisterwerke der Spitzbogenbaukunst vor dem gänzlichen
Ruine bewahrt werden und die alten Kathedralen unter der ein¬
sichtsvollen Leitung unserer Künstler sich verjüngen. Es scheint,
als wollten wir an diesen Denkmalen drei Jahrhunderte der Ver¬
wüstung und geistlosen Uebertünchung wieder gut machen, denen sie
anheimfielen, als sie kaum aus den Händen ihrer bewunderungs¬
würdigen Erbauer hervorgegangen waren. Ob die Aufregung,
die sich neuerdings besonders in Deutschland kund gegeben und
welcher die großen und einfachen Worte des königlichen Redners
eine hohe Weihe verliehen, eine stichhaltige sein, ob sie Kraft genug
besitzen wird, die großartige Basilika der Nheinstadt auszubauen, ob
der Nationalstolz das vollenden wird, was die Energie deS religiö¬
sen Gefühls nicht vermocht hat -- aufrichtig gesagt, so sehr wir
es, besonders von diesem letzten Gesichtspunkte aus, wünschen, so
wagen wir es doch kaum zu hoffen. Die Kathedrale am Schelde-
Ufer aber wird glücklicherweise noch viele Jahrhunderte hindurch den
unvermeidlichen Angriffen der Zeit zu trotzen im Stande sein.

Obzwar erst im Jahre 1518 beendet, hatte die Thurmspitze
doch schon viel gelitten; denn das feuchte Klima Antwerpens zerstört
den Stein. Zum Glücke aber werden diese allzufrühen Spuren des


rungen ausdehnen; der Schatten der ihrigen überragt sie doch. Ja,
die Industrie kann noch nicht das letzte Wort der Zukunft sein;
nein, so oft wir dies auch gedacht haben mögen, unsere Eisenbahnen
sind nicht unsere Kathedralen. Der Odem deS Geistes, der einst
diese Granitmassen formte, weht noch aus diesen Steinen heraus,
die Gesellschaft, welche so edle Monumente zu erbauen verstand, hat
uns in ihnen ihre Seele hinterlassen. Wenn aber jetzt ein Sturm
das Feuer ausbliese, das unseren heutigen künstlichen Eisenbahnen,
worauf wir so stolz sind, seine Nahrung giebt, was würde dann
übrig bleiben? Skelette, die beim geringsten Anstoß zu Staub zer¬
fallen. Und ist das Alles, was uns überleben soll? Wann wird sich
das Lebenöprincip, dqS sich in uns bewegt, von seiner irdischen, ver¬
gänglichen Form losmachen? Wann werden wir unsern Tempel
bauen?

In Erwartung dieser geistigeren Zukunft unserer Architektur
restauriren wir und thun gut daran. Dieser sieberartig um sich
greifenden Lust an der Rehabilitation der Vergangenheit verdanken
wir es, daß die Meisterwerke der Spitzbogenbaukunst vor dem gänzlichen
Ruine bewahrt werden und die alten Kathedralen unter der ein¬
sichtsvollen Leitung unserer Künstler sich verjüngen. Es scheint,
als wollten wir an diesen Denkmalen drei Jahrhunderte der Ver¬
wüstung und geistlosen Uebertünchung wieder gut machen, denen sie
anheimfielen, als sie kaum aus den Händen ihrer bewunderungs¬
würdigen Erbauer hervorgegangen waren. Ob die Aufregung,
die sich neuerdings besonders in Deutschland kund gegeben und
welcher die großen und einfachen Worte des königlichen Redners
eine hohe Weihe verliehen, eine stichhaltige sein, ob sie Kraft genug
besitzen wird, die großartige Basilika der Nheinstadt auszubauen, ob
der Nationalstolz das vollenden wird, was die Energie deS religiö¬
sen Gefühls nicht vermocht hat — aufrichtig gesagt, so sehr wir
es, besonders von diesem letzten Gesichtspunkte aus, wünschen, so
wagen wir es doch kaum zu hoffen. Die Kathedrale am Schelde-
Ufer aber wird glücklicherweise noch viele Jahrhunderte hindurch den
unvermeidlichen Angriffen der Zeit zu trotzen im Stande sein.

Obzwar erst im Jahre 1518 beendet, hatte die Thurmspitze
doch schon viel gelitten; denn das feuchte Klima Antwerpens zerstört
den Stein. Zum Glücke aber werden diese allzufrühen Spuren des


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[0408] rungen ausdehnen; der Schatten der ihrigen überragt sie doch. Ja, die Industrie kann noch nicht das letzte Wort der Zukunft sein; nein, so oft wir dies auch gedacht haben mögen, unsere Eisenbahnen sind nicht unsere Kathedralen. Der Odem deS Geistes, der einst diese Granitmassen formte, weht noch aus diesen Steinen heraus, die Gesellschaft, welche so edle Monumente zu erbauen verstand, hat uns in ihnen ihre Seele hinterlassen. Wenn aber jetzt ein Sturm das Feuer ausbliese, das unseren heutigen künstlichen Eisenbahnen, worauf wir so stolz sind, seine Nahrung giebt, was würde dann übrig bleiben? Skelette, die beim geringsten Anstoß zu Staub zer¬ fallen. Und ist das Alles, was uns überleben soll? Wann wird sich das Lebenöprincip, dqS sich in uns bewegt, von seiner irdischen, ver¬ gänglichen Form losmachen? Wann werden wir unsern Tempel bauen? In Erwartung dieser geistigeren Zukunft unserer Architektur restauriren wir und thun gut daran. Dieser sieberartig um sich greifenden Lust an der Rehabilitation der Vergangenheit verdanken wir es, daß die Meisterwerke der Spitzbogenbaukunst vor dem gänzlichen Ruine bewahrt werden und die alten Kathedralen unter der ein¬ sichtsvollen Leitung unserer Künstler sich verjüngen. Es scheint, als wollten wir an diesen Denkmalen drei Jahrhunderte der Ver¬ wüstung und geistlosen Uebertünchung wieder gut machen, denen sie anheimfielen, als sie kaum aus den Händen ihrer bewunderungs¬ würdigen Erbauer hervorgegangen waren. Ob die Aufregung, die sich neuerdings besonders in Deutschland kund gegeben und welcher die großen und einfachen Worte des königlichen Redners eine hohe Weihe verliehen, eine stichhaltige sein, ob sie Kraft genug besitzen wird, die großartige Basilika der Nheinstadt auszubauen, ob der Nationalstolz das vollenden wird, was die Energie deS religiö¬ sen Gefühls nicht vermocht hat — aufrichtig gesagt, so sehr wir es, besonders von diesem letzten Gesichtspunkte aus, wünschen, so wagen wir es doch kaum zu hoffen. Die Kathedrale am Schelde- Ufer aber wird glücklicherweise noch viele Jahrhunderte hindurch den unvermeidlichen Angriffen der Zeit zu trotzen im Stande sein. Obzwar erst im Jahre 1518 beendet, hatte die Thurmspitze doch schon viel gelitten; denn das feuchte Klima Antwerpens zerstört den Stein. Zum Glücke aber werden diese allzufrühen Spuren des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/408>, abgerufen am 26.08.2024.