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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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dessen tiefer Fluß die Schiffahrt an sich zog, welche durch die Ent¬
deckung Amerika's und des Wasserweges nach Indien eine bis da¬
hin unbekannte Ausdehnung und Bedeutsamkeit gewonnen hatte.

Wie der Hafen einer Binnenstadt, der mit dem Meere nur
durch einen vier Meilen langen Canal zusammenhängt, in einem
Lande, das eine wirkliche, obendrein von der Natur ganz dazu ge¬
schaffene Seestadt besaß, zu hohem Wohlstande gelangen konnte,
wäre eine unerklärliche Thatsache, wüßte man nicht, daß das künst¬
liche Element der Politik nur allzuoft Gewalt genug besitzt, um der¬
artigen natürlichen Gaben ihre Kraft zu rauben. Wie oft hat
nicht, um ein ähnliches Beispiel anzuführen, die Macht der Verhält¬
nisse und der Verträge Chalcedon auf Unkosten von Byzanz be¬
günstigt ! Antwerpen ist übrigens vielleicht eines der' schlagendsten
und traurigsten Beispiele von dem seltsamen Spiele der Ereignisse
in der politischen Welt. Ein Hafen, der dem Londoner in Nichts
nachsteht, und der noch dazu den Vortheil hat, auf dem Festlande
gelegen zu sein; eine Stadt, welche im Laufe der Jahrhunderte an
Größe und Wohlstand in immer steigendem Maße hätte zunehmen
müssen, da sie mit ihrem Rücken an Deutschland sich lehnt und die
Nordsee beherrscht -- hat doch ihr Glück in seiner Fülle nur ein
Jahrhundert hindurch genossen, während Amsterdam, daS unaufhör¬
lich von der Ueberschwemmung bedroht wird und dessen Canäle dnrch
Meerschlamm verstopft sind, sich ein so dauerhaftes Geschick zu schaffen
gewußt hat; gleichsam als sollte hiermit ein Beweis mehr geliefert
werden, wie die Völker leichter die Hindernisse sieghaft überwältigen,
die von der Natur ausgehen, als die von den Menschen selbst ein¬
ander in den Weg gelegt werden.'

Doch lassen wir diesen zu peinlichen Betrachtungen führenden
Gegenstand bei Seite. Wollten wir ja doch eigentlich nur die Be¬
merkung aussprechen, wie jede der belgischen Städte die Eigenthüm¬
lichkeiten ihrer jetzigen Physiognomie der Zeit verdankt, in der sie
früher geglänzt und wie alle noch das Gepräge dieser Epoche ihres
höchsten Ruhms unverwischbar tragen. So ist z. B. Brügge ganz
und gar die Stadt des Mittelalters. Der Styl ihrer architektoni¬
schen Meisterwerke ist rein, ohne alle spätere Beimischung; kaum
hat er den letzten Ausdruck der Spitzbogen-Baukunst erreicht. Man
sieht deutlich, daß, wie die Stadt von ihrer Größe herabzusteigen


dessen tiefer Fluß die Schiffahrt an sich zog, welche durch die Ent¬
deckung Amerika's und des Wasserweges nach Indien eine bis da¬
hin unbekannte Ausdehnung und Bedeutsamkeit gewonnen hatte.

Wie der Hafen einer Binnenstadt, der mit dem Meere nur
durch einen vier Meilen langen Canal zusammenhängt, in einem
Lande, das eine wirkliche, obendrein von der Natur ganz dazu ge¬
schaffene Seestadt besaß, zu hohem Wohlstande gelangen konnte,
wäre eine unerklärliche Thatsache, wüßte man nicht, daß das künst¬
liche Element der Politik nur allzuoft Gewalt genug besitzt, um der¬
artigen natürlichen Gaben ihre Kraft zu rauben. Wie oft hat
nicht, um ein ähnliches Beispiel anzuführen, die Macht der Verhält¬
nisse und der Verträge Chalcedon auf Unkosten von Byzanz be¬
günstigt ! Antwerpen ist übrigens vielleicht eines der' schlagendsten
und traurigsten Beispiele von dem seltsamen Spiele der Ereignisse
in der politischen Welt. Ein Hafen, der dem Londoner in Nichts
nachsteht, und der noch dazu den Vortheil hat, auf dem Festlande
gelegen zu sein; eine Stadt, welche im Laufe der Jahrhunderte an
Größe und Wohlstand in immer steigendem Maße hätte zunehmen
müssen, da sie mit ihrem Rücken an Deutschland sich lehnt und die
Nordsee beherrscht — hat doch ihr Glück in seiner Fülle nur ein
Jahrhundert hindurch genossen, während Amsterdam, daS unaufhör¬
lich von der Ueberschwemmung bedroht wird und dessen Canäle dnrch
Meerschlamm verstopft sind, sich ein so dauerhaftes Geschick zu schaffen
gewußt hat; gleichsam als sollte hiermit ein Beweis mehr geliefert
werden, wie die Völker leichter die Hindernisse sieghaft überwältigen,
die von der Natur ausgehen, als die von den Menschen selbst ein¬
ander in den Weg gelegt werden.'

Doch lassen wir diesen zu peinlichen Betrachtungen führenden
Gegenstand bei Seite. Wollten wir ja doch eigentlich nur die Be¬
merkung aussprechen, wie jede der belgischen Städte die Eigenthüm¬
lichkeiten ihrer jetzigen Physiognomie der Zeit verdankt, in der sie
früher geglänzt und wie alle noch das Gepräge dieser Epoche ihres
höchsten Ruhms unverwischbar tragen. So ist z. B. Brügge ganz
und gar die Stadt des Mittelalters. Der Styl ihrer architektoni¬
schen Meisterwerke ist rein, ohne alle spätere Beimischung; kaum
hat er den letzten Ausdruck der Spitzbogen-Baukunst erreicht. Man
sieht deutlich, daß, wie die Stadt von ihrer Größe herabzusteigen


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[0402] dessen tiefer Fluß die Schiffahrt an sich zog, welche durch die Ent¬ deckung Amerika's und des Wasserweges nach Indien eine bis da¬ hin unbekannte Ausdehnung und Bedeutsamkeit gewonnen hatte. Wie der Hafen einer Binnenstadt, der mit dem Meere nur durch einen vier Meilen langen Canal zusammenhängt, in einem Lande, das eine wirkliche, obendrein von der Natur ganz dazu ge¬ schaffene Seestadt besaß, zu hohem Wohlstande gelangen konnte, wäre eine unerklärliche Thatsache, wüßte man nicht, daß das künst¬ liche Element der Politik nur allzuoft Gewalt genug besitzt, um der¬ artigen natürlichen Gaben ihre Kraft zu rauben. Wie oft hat nicht, um ein ähnliches Beispiel anzuführen, die Macht der Verhält¬ nisse und der Verträge Chalcedon auf Unkosten von Byzanz be¬ günstigt ! Antwerpen ist übrigens vielleicht eines der' schlagendsten und traurigsten Beispiele von dem seltsamen Spiele der Ereignisse in der politischen Welt. Ein Hafen, der dem Londoner in Nichts nachsteht, und der noch dazu den Vortheil hat, auf dem Festlande gelegen zu sein; eine Stadt, welche im Laufe der Jahrhunderte an Größe und Wohlstand in immer steigendem Maße hätte zunehmen müssen, da sie mit ihrem Rücken an Deutschland sich lehnt und die Nordsee beherrscht — hat doch ihr Glück in seiner Fülle nur ein Jahrhundert hindurch genossen, während Amsterdam, daS unaufhör¬ lich von der Ueberschwemmung bedroht wird und dessen Canäle dnrch Meerschlamm verstopft sind, sich ein so dauerhaftes Geschick zu schaffen gewußt hat; gleichsam als sollte hiermit ein Beweis mehr geliefert werden, wie die Völker leichter die Hindernisse sieghaft überwältigen, die von der Natur ausgehen, als die von den Menschen selbst ein¬ ander in den Weg gelegt werden.' Doch lassen wir diesen zu peinlichen Betrachtungen führenden Gegenstand bei Seite. Wollten wir ja doch eigentlich nur die Be¬ merkung aussprechen, wie jede der belgischen Städte die Eigenthüm¬ lichkeiten ihrer jetzigen Physiognomie der Zeit verdankt, in der sie früher geglänzt und wie alle noch das Gepräge dieser Epoche ihres höchsten Ruhms unverwischbar tragen. So ist z. B. Brügge ganz und gar die Stadt des Mittelalters. Der Styl ihrer architektoni¬ schen Meisterwerke ist rein, ohne alle spätere Beimischung; kaum hat er den letzten Ausdruck der Spitzbogen-Baukunst erreicht. Man sieht deutlich, daß, wie die Stadt von ihrer Größe herabzusteigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/402>, abgerufen am 23.07.2024.