Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

zuweilen auf große Verbrecher von Volköbänkelsängern Hort, haben
etwas von der Naivetät, die ich für meine Geschichte wünschte.
Leider aber mischt sich zu viel Groteskes darein, so daß sie bei dem
gebildeten Manne den Gedanken deS Mitleids ersticken, und ihm nur
noch die lächerliche Seite erscheint. Ich erinnere mich, aber nur
noch dunkel, einer römischen Grabschrift auf ein junges, zu sechzehn
Jahren gestorbenes Mädchen, die ein treffendes Beispiel jener Ein¬
fachheit abgäbe, die ich im Sinne habe. Meine Geschichte nun
müßte besonders so erzählt werden, daß sie nicht blos ein unfrucht¬
bares Mitleid, wie jene Sprache des Leichensteineö erzeugte, sondern
daß sie eine Rührung hervorbrächte, die zu einem guten Werke
triebe, daß sie ergreifende Betrachtungen weckte, denen ein thatkräfti¬
ges Streben zu Gunsten der Unglücklichen folgte Denn wahrlich
es ist Zeit, daß etwas Andres geschehe, als bisher geschehen ist.
Da das Christenthum noch reich war, vertheilte es an die Armen
Almosen, gab denen, die kein Obdach hatten, einen Zufluchtsort unter
seinem Dache, heilte die Kranken und betete für die Todten; seine
Barmherzigkett stiftete Orden von Hospitälern und von Mönchen
und Nonnen zum Dienste der Armen und Kranken. Aber dem
Christenthum, wenn es auch das jedesmalige Elend der gegen¬
wärtigen Zeiten zu lindern gesucht hat, fehlre es doch an Voraussicht
für die Zukunft: es gab immer nur Palliativmittel. Und das konnte
wohl nicht anders sein, da nach dem Dogma deö Christenthums
alles Glück in Seelenfrieden bestand, die Leiden des Fleisches aber
für Nichts erachtet wurden. Heute, da dem Christenthum durch
eigene Armuth die Hände gebunden sind, hat die Philanthropie
seine Stelle eingenommen; aber anstatt stille Almosen zu vertheilen,
hat sie die von ihr erwiesenen Wohlthaten auf allen Straßen aus-
geschrieen wissen wollen. Und da sie obendrein verteufelt ökonomisch
ist, so lag es selten in ihrer Absicht, daß sie die Armen auf Unkosten
ihres Ruhmes wirklich ernähren sollte; sie hat daher ihre Portionen
beschnitten, um die Zahl zu vermehren, damit die Summe der von
ihr vertheilten Suppen und Heizungskarten auch mit Anstand in
den Journalen figuriren könne.

Die Regierungen ihrerseits thun für die Armen, was sie eben
können, und das ist nicht sehr viel, weil die Politik ihnen nicht Zeit
läßt, an das Nützliche zu denken, und weil namentlich einem englischen,


zuweilen auf große Verbrecher von Volköbänkelsängern Hort, haben
etwas von der Naivetät, die ich für meine Geschichte wünschte.
Leider aber mischt sich zu viel Groteskes darein, so daß sie bei dem
gebildeten Manne den Gedanken deS Mitleids ersticken, und ihm nur
noch die lächerliche Seite erscheint. Ich erinnere mich, aber nur
noch dunkel, einer römischen Grabschrift auf ein junges, zu sechzehn
Jahren gestorbenes Mädchen, die ein treffendes Beispiel jener Ein¬
fachheit abgäbe, die ich im Sinne habe. Meine Geschichte nun
müßte besonders so erzählt werden, daß sie nicht blos ein unfrucht¬
bares Mitleid, wie jene Sprache des Leichensteineö erzeugte, sondern
daß sie eine Rührung hervorbrächte, die zu einem guten Werke
triebe, daß sie ergreifende Betrachtungen weckte, denen ein thatkräfti¬
ges Streben zu Gunsten der Unglücklichen folgte Denn wahrlich
es ist Zeit, daß etwas Andres geschehe, als bisher geschehen ist.
Da das Christenthum noch reich war, vertheilte es an die Armen
Almosen, gab denen, die kein Obdach hatten, einen Zufluchtsort unter
seinem Dache, heilte die Kranken und betete für die Todten; seine
Barmherzigkett stiftete Orden von Hospitälern und von Mönchen
und Nonnen zum Dienste der Armen und Kranken. Aber dem
Christenthum, wenn es auch das jedesmalige Elend der gegen¬
wärtigen Zeiten zu lindern gesucht hat, fehlre es doch an Voraussicht
für die Zukunft: es gab immer nur Palliativmittel. Und das konnte
wohl nicht anders sein, da nach dem Dogma deö Christenthums
alles Glück in Seelenfrieden bestand, die Leiden des Fleisches aber
für Nichts erachtet wurden. Heute, da dem Christenthum durch
eigene Armuth die Hände gebunden sind, hat die Philanthropie
seine Stelle eingenommen; aber anstatt stille Almosen zu vertheilen,
hat sie die von ihr erwiesenen Wohlthaten auf allen Straßen aus-
geschrieen wissen wollen. Und da sie obendrein verteufelt ökonomisch
ist, so lag es selten in ihrer Absicht, daß sie die Armen auf Unkosten
ihres Ruhmes wirklich ernähren sollte; sie hat daher ihre Portionen
beschnitten, um die Zahl zu vermehren, damit die Summe der von
ihr vertheilten Suppen und Heizungskarten auch mit Anstand in
den Journalen figuriren könne.

Die Regierungen ihrerseits thun für die Armen, was sie eben
können, und das ist nicht sehr viel, weil die Politik ihnen nicht Zeit
läßt, an das Nützliche zu denken, und weil namentlich einem englischen,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0265" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/266882"/>
            <p xml:id="ID_684" prev="#ID_683"> zuweilen auf große Verbrecher von Volköbänkelsängern Hort, haben<lb/>
etwas von der Naivetät, die ich für meine Geschichte wünschte.<lb/>
Leider aber mischt sich zu viel Groteskes darein, so daß sie bei dem<lb/>
gebildeten Manne den Gedanken deS Mitleids ersticken, und ihm nur<lb/>
noch die lächerliche Seite erscheint. Ich erinnere mich, aber nur<lb/>
noch dunkel, einer römischen Grabschrift auf ein junges, zu sechzehn<lb/>
Jahren gestorbenes Mädchen, die ein treffendes Beispiel jener Ein¬<lb/>
fachheit abgäbe, die ich im Sinne habe. Meine Geschichte nun<lb/>
müßte besonders so erzählt werden, daß sie nicht blos ein unfrucht¬<lb/>
bares Mitleid, wie jene Sprache des Leichensteineö erzeugte, sondern<lb/>
daß sie eine Rührung hervorbrächte, die zu einem guten Werke<lb/>
triebe, daß sie ergreifende Betrachtungen weckte, denen ein thatkräfti¬<lb/>
ges Streben zu Gunsten der Unglücklichen folgte Denn wahrlich<lb/>
es ist Zeit, daß etwas Andres geschehe, als bisher geschehen ist.<lb/>
Da das Christenthum noch reich war, vertheilte es an die Armen<lb/>
Almosen, gab denen, die kein Obdach hatten, einen Zufluchtsort unter<lb/>
seinem Dache, heilte die Kranken und betete für die Todten; seine<lb/>
Barmherzigkett stiftete Orden von Hospitälern und von Mönchen<lb/>
und Nonnen zum Dienste der Armen und Kranken. Aber dem<lb/>
Christenthum, wenn es auch das jedesmalige Elend der gegen¬<lb/>
wärtigen Zeiten zu lindern gesucht hat, fehlre es doch an Voraussicht<lb/>
für die Zukunft: es gab immer nur Palliativmittel. Und das konnte<lb/>
wohl nicht anders sein, da nach dem Dogma deö Christenthums<lb/>
alles Glück in Seelenfrieden bestand, die Leiden des Fleisches aber<lb/>
für Nichts erachtet wurden. Heute, da dem Christenthum durch<lb/>
eigene Armuth die Hände gebunden sind, hat die Philanthropie<lb/>
seine Stelle eingenommen; aber anstatt stille Almosen zu vertheilen,<lb/>
hat sie die von ihr erwiesenen Wohlthaten auf allen Straßen aus-<lb/>
geschrieen wissen wollen. Und da sie obendrein verteufelt ökonomisch<lb/>
ist, so lag es selten in ihrer Absicht, daß sie die Armen auf Unkosten<lb/>
ihres Ruhmes wirklich ernähren sollte; sie hat daher ihre Portionen<lb/>
beschnitten, um die Zahl zu vermehren, damit die Summe der von<lb/>
ihr vertheilten Suppen und Heizungskarten auch mit Anstand in<lb/>
den Journalen figuriren könne.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_685" next="#ID_686"> Die Regierungen ihrerseits thun für die Armen, was sie eben<lb/>
können, und das ist nicht sehr viel, weil die Politik ihnen nicht Zeit<lb/>
läßt, an das Nützliche zu denken, und weil namentlich einem englischen,</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0265] zuweilen auf große Verbrecher von Volköbänkelsängern Hort, haben etwas von der Naivetät, die ich für meine Geschichte wünschte. Leider aber mischt sich zu viel Groteskes darein, so daß sie bei dem gebildeten Manne den Gedanken deS Mitleids ersticken, und ihm nur noch die lächerliche Seite erscheint. Ich erinnere mich, aber nur noch dunkel, einer römischen Grabschrift auf ein junges, zu sechzehn Jahren gestorbenes Mädchen, die ein treffendes Beispiel jener Ein¬ fachheit abgäbe, die ich im Sinne habe. Meine Geschichte nun müßte besonders so erzählt werden, daß sie nicht blos ein unfrucht¬ bares Mitleid, wie jene Sprache des Leichensteineö erzeugte, sondern daß sie eine Rührung hervorbrächte, die zu einem guten Werke triebe, daß sie ergreifende Betrachtungen weckte, denen ein thatkräfti¬ ges Streben zu Gunsten der Unglücklichen folgte Denn wahrlich es ist Zeit, daß etwas Andres geschehe, als bisher geschehen ist. Da das Christenthum noch reich war, vertheilte es an die Armen Almosen, gab denen, die kein Obdach hatten, einen Zufluchtsort unter seinem Dache, heilte die Kranken und betete für die Todten; seine Barmherzigkett stiftete Orden von Hospitälern und von Mönchen und Nonnen zum Dienste der Armen und Kranken. Aber dem Christenthum, wenn es auch das jedesmalige Elend der gegen¬ wärtigen Zeiten zu lindern gesucht hat, fehlre es doch an Voraussicht für die Zukunft: es gab immer nur Palliativmittel. Und das konnte wohl nicht anders sein, da nach dem Dogma deö Christenthums alles Glück in Seelenfrieden bestand, die Leiden des Fleisches aber für Nichts erachtet wurden. Heute, da dem Christenthum durch eigene Armuth die Hände gebunden sind, hat die Philanthropie seine Stelle eingenommen; aber anstatt stille Almosen zu vertheilen, hat sie die von ihr erwiesenen Wohlthaten auf allen Straßen aus- geschrieen wissen wollen. Und da sie obendrein verteufelt ökonomisch ist, so lag es selten in ihrer Absicht, daß sie die Armen auf Unkosten ihres Ruhmes wirklich ernähren sollte; sie hat daher ihre Portionen beschnitten, um die Zahl zu vermehren, damit die Summe der von ihr vertheilten Suppen und Heizungskarten auch mit Anstand in den Journalen figuriren könne. Die Regierungen ihrerseits thun für die Armen, was sie eben können, und das ist nicht sehr viel, weil die Politik ihnen nicht Zeit läßt, an das Nützliche zu denken, und weil namentlich einem englischen,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/265
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/265>, abgerufen am 26.08.2024.