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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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Bequemes, über ein unabänderliches Uebel in Rührung zu gerathen.
Je gehässiger der Verbrecher, desto größer das Vergnügen! Daher
giebt es z. B. in Frankreich gar manchen vornehmen Adeligen, wel¬
cher mit der Juliusrevolution und dem Sturz Karls X. sich wohl
aussöhnen würde, hätte nicht die Regierung, die aus dieser Revo¬
lution hervorgegangen, zwei tyrannische Akte sich zu Schulden kommen
lassen, welche alle Aussöhnung mit ihr unmöglich machen. Sie hat
den Auszug der Galeerensclaven-Ketre und die Hinrichtungen auf dem
Gröveplatz in Paris abgeschafft, zwei Schauspiele, die man gratis
hatte, von denen man mit zusammengeschnürten Herzen zurückkam
und bei denen man M einem Tage mehr Thränen vergoß, als zu
Haus in zehn Jahren. Wenn es schon ein Vergnügen ist, im Thea¬
ter zu weinen, über erdichtete Leiden, so stelle man sich erst die Wonne
vor, die man hier empfand, wo c>>i die Stelle der Dichtung blutige
oder schreckenvolle Wahrheit getreten, wo das Melodram von der
Bühne auf die offene Straße herabgestiegen war. Wenn man den
Zeitungsberichten trauen darf, so hatten sich, als der letzte Zug
Galeerensclaven nach Toulon abging, 3V,WV Zuschauer versammelt,
dreißigtausend Zuschauer, um zweihundert Elende zu sehen, die
an eine lange Eisenkette geschmiedet waren. Diese Dreißigtausend
fragen nun unwillig die französische Negierung:

-- Wie? Das war unser moderner Circus, der uns an die
Spiele des alten Rom erinnerte, wo schöne, nackte Fechtersclaven
im Angehenden keuscher Vestalinnen einander erwürgten; daS waren
unsere Gladiatoren, welche, die gesetzliche Gesellschaft und deren Herr¬
schergewalt in uns erkennend, mit ihrem: ^.-of-u,'I um-ituri te sulu-
timt, uns begrüßten! Und das will man uns rauben? Wo sollen
wir denn Mit unserer Empfindsamkeit hinaus, wenn man all diese
blutigen Dramen, die in der Finsterniß begonnen, auch im Dunkeln
endet? Sollen wir Nichts mehr zu sehen bekommen? Soll Alles,
was unsere geglättete, nivellirte Gesellschaft an Unmoralischem, an
Ergreifendem, an Rührendem noch hat, verschleiert werden? Worüber
sollen wir denn nun weinen?--

Die französische Negierung, da sie nur ein moralisches Wesen
ist, hat diese Klagen nicht gehört, oder wenigstens unbeantwortet
gelassen und ist ihren Weg weiter geschritten. Ich aber antworte
den Fragenden:


Bequemes, über ein unabänderliches Uebel in Rührung zu gerathen.
Je gehässiger der Verbrecher, desto größer das Vergnügen! Daher
giebt es z. B. in Frankreich gar manchen vornehmen Adeligen, wel¬
cher mit der Juliusrevolution und dem Sturz Karls X. sich wohl
aussöhnen würde, hätte nicht die Regierung, die aus dieser Revo¬
lution hervorgegangen, zwei tyrannische Akte sich zu Schulden kommen
lassen, welche alle Aussöhnung mit ihr unmöglich machen. Sie hat
den Auszug der Galeerensclaven-Ketre und die Hinrichtungen auf dem
Gröveplatz in Paris abgeschafft, zwei Schauspiele, die man gratis
hatte, von denen man mit zusammengeschnürten Herzen zurückkam
und bei denen man M einem Tage mehr Thränen vergoß, als zu
Haus in zehn Jahren. Wenn es schon ein Vergnügen ist, im Thea¬
ter zu weinen, über erdichtete Leiden, so stelle man sich erst die Wonne
vor, die man hier empfand, wo c>>i die Stelle der Dichtung blutige
oder schreckenvolle Wahrheit getreten, wo das Melodram von der
Bühne auf die offene Straße herabgestiegen war. Wenn man den
Zeitungsberichten trauen darf, so hatten sich, als der letzte Zug
Galeerensclaven nach Toulon abging, 3V,WV Zuschauer versammelt,
dreißigtausend Zuschauer, um zweihundert Elende zu sehen, die
an eine lange Eisenkette geschmiedet waren. Diese Dreißigtausend
fragen nun unwillig die französische Negierung:

— Wie? Das war unser moderner Circus, der uns an die
Spiele des alten Rom erinnerte, wo schöne, nackte Fechtersclaven
im Angehenden keuscher Vestalinnen einander erwürgten; daS waren
unsere Gladiatoren, welche, die gesetzliche Gesellschaft und deren Herr¬
schergewalt in uns erkennend, mit ihrem: ^.-of-u,'I um-ituri te sulu-
timt, uns begrüßten! Und das will man uns rauben? Wo sollen
wir denn Mit unserer Empfindsamkeit hinaus, wenn man all diese
blutigen Dramen, die in der Finsterniß begonnen, auch im Dunkeln
endet? Sollen wir Nichts mehr zu sehen bekommen? Soll Alles,
was unsere geglättete, nivellirte Gesellschaft an Unmoralischem, an
Ergreifendem, an Rührendem noch hat, verschleiert werden? Worüber
sollen wir denn nun weinen?—

Die französische Negierung, da sie nur ein moralisches Wesen
ist, hat diese Klagen nicht gehört, oder wenigstens unbeantwortet
gelassen und ist ihren Weg weiter geschritten. Ich aber antworte
den Fragenden:


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[0262] Bequemes, über ein unabänderliches Uebel in Rührung zu gerathen. Je gehässiger der Verbrecher, desto größer das Vergnügen! Daher giebt es z. B. in Frankreich gar manchen vornehmen Adeligen, wel¬ cher mit der Juliusrevolution und dem Sturz Karls X. sich wohl aussöhnen würde, hätte nicht die Regierung, die aus dieser Revo¬ lution hervorgegangen, zwei tyrannische Akte sich zu Schulden kommen lassen, welche alle Aussöhnung mit ihr unmöglich machen. Sie hat den Auszug der Galeerensclaven-Ketre und die Hinrichtungen auf dem Gröveplatz in Paris abgeschafft, zwei Schauspiele, die man gratis hatte, von denen man mit zusammengeschnürten Herzen zurückkam und bei denen man M einem Tage mehr Thränen vergoß, als zu Haus in zehn Jahren. Wenn es schon ein Vergnügen ist, im Thea¬ ter zu weinen, über erdichtete Leiden, so stelle man sich erst die Wonne vor, die man hier empfand, wo c>>i die Stelle der Dichtung blutige oder schreckenvolle Wahrheit getreten, wo das Melodram von der Bühne auf die offene Straße herabgestiegen war. Wenn man den Zeitungsberichten trauen darf, so hatten sich, als der letzte Zug Galeerensclaven nach Toulon abging, 3V,WV Zuschauer versammelt, dreißigtausend Zuschauer, um zweihundert Elende zu sehen, die an eine lange Eisenkette geschmiedet waren. Diese Dreißigtausend fragen nun unwillig die französische Negierung: — Wie? Das war unser moderner Circus, der uns an die Spiele des alten Rom erinnerte, wo schöne, nackte Fechtersclaven im Angehenden keuscher Vestalinnen einander erwürgten; daS waren unsere Gladiatoren, welche, die gesetzliche Gesellschaft und deren Herr¬ schergewalt in uns erkennend, mit ihrem: ^.-of-u,'I um-ituri te sulu- timt, uns begrüßten! Und das will man uns rauben? Wo sollen wir denn Mit unserer Empfindsamkeit hinaus, wenn man all diese blutigen Dramen, die in der Finsterniß begonnen, auch im Dunkeln endet? Sollen wir Nichts mehr zu sehen bekommen? Soll Alles, was unsere geglättete, nivellirte Gesellschaft an Unmoralischem, an Ergreifendem, an Rührendem noch hat, verschleiert werden? Worüber sollen wir denn nun weinen?— Die französische Negierung, da sie nur ein moralisches Wesen ist, hat diese Klagen nicht gehört, oder wenigstens unbeantwortet gelassen und ist ihren Weg weiter geschritten. Ich aber antworte den Fragenden:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/262>, abgerufen am 26.08.2024.