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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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daß sie im Laufe von sechs Herbst- und Wintermonaten doch nur
etwa zehn Zoll Wasser auf die Köpfe bekommen haben. Ich wünschte,
die Verfasser dieser Berechnung hätten sich in ihren Mußestunden
dem Studium der moralischen Feuchtigkeitsmessung ergeben: -- wir
würden ihnen zu ihrer Genugthuung erlauben, hiefür eine neue
Wissenschaft, Laerymo-Hygro-metrie, zu erschaffen -- und ich bin über¬
zeugt, das Resultat einer solchen Berechnung würde meine Behaup¬
tung nur allzusehr bestätigen.

Wollte ich hier alle jene Menschenklassen mustern, die cor-im
jo>nie> weinen und in einer zur Schau getragenen Empfindsamkeit
einen gewissen Ruhm suchen, so würde dieser Aussatz eine unabseh¬
bare Länge erhalten. Von dem tugendhaften Menschenfreunde an,
welcher wegen der unerschöpflichen Kraft seiner Thränendrüsen und
wegen des reichlichen Gebrauchs, den er bei feierlichen Gelegenheiten
davon zu machen weiß, das Glück hat, zum Vorstand aller sogenann¬
ten Wohlthätigkeitsgcsettschasten erwählt zu werden, bis zu dem be¬
scheidenen Verfasser rührender Kinderschriftcn, der zu Weihnachten
und Neujahr vor Glück stille Thränen vergießt in einer dunklen
Ecke des Ladens seines Verlegers, wo die Mütter und Erzieherinnen
zahlreich sich einfinden, um seine Bücher zu kaufen, -- alle Weinen¬
den, die zwischen diesen beiden Polen liegen, aufzuzählen, wäre eine
Arbeit, bei der einer Herkuleöbrust der Athem ausginge. Und was
hätte ich nicht zu thun, wenn ich, um meinem Aufsatze ein wissenschaft¬
liches Ansehen zu geben und meine Eigenschaft als systematischer Deut¬
scher nicht zu verläugnen, die Thränen in Abtheilungen bringen
wollte?

Es giebt Leute, welche bei dem allergemeinsten Ereignisse ihres
hausbacken-prosaischen Lebens Thränenströme vergießen. Ich bin
überzeugt, daß Jedermann schon, nicht ein, sondern unzählige Male,
guten, dickbäuchigen Familienvätern begegnet ist, deren Wangen so
glatt sind, so von Gesundheit strotzen, so heiter erglänzen, daß man
darauf schwören möchte, sie seien nie von Thränen durchfurcht wor¬
den. Aber wie trügerisch ist dieser Schein! Man beobachte sie nur
und man wird sehen, wie schnell die Fluth, die von ihren Gefühlen
emporgetrieben wird, ihr Auge netzt. Sie verheirathen heute, nicht
ihre erste, nein, ihre fünfte Tochter -- also weinen sie. -- Ein klei¬
nes Geschäft zwingt sie, den Kirchthurm ihres Geburth- und Wohnorts


daß sie im Laufe von sechs Herbst- und Wintermonaten doch nur
etwa zehn Zoll Wasser auf die Köpfe bekommen haben. Ich wünschte,
die Verfasser dieser Berechnung hätten sich in ihren Mußestunden
dem Studium der moralischen Feuchtigkeitsmessung ergeben: — wir
würden ihnen zu ihrer Genugthuung erlauben, hiefür eine neue
Wissenschaft, Laerymo-Hygro-metrie, zu erschaffen — und ich bin über¬
zeugt, das Resultat einer solchen Berechnung würde meine Behaup¬
tung nur allzusehr bestätigen.

Wollte ich hier alle jene Menschenklassen mustern, die cor-im
jo>nie> weinen und in einer zur Schau getragenen Empfindsamkeit
einen gewissen Ruhm suchen, so würde dieser Aussatz eine unabseh¬
bare Länge erhalten. Von dem tugendhaften Menschenfreunde an,
welcher wegen der unerschöpflichen Kraft seiner Thränendrüsen und
wegen des reichlichen Gebrauchs, den er bei feierlichen Gelegenheiten
davon zu machen weiß, das Glück hat, zum Vorstand aller sogenann¬
ten Wohlthätigkeitsgcsettschasten erwählt zu werden, bis zu dem be¬
scheidenen Verfasser rührender Kinderschriftcn, der zu Weihnachten
und Neujahr vor Glück stille Thränen vergießt in einer dunklen
Ecke des Ladens seines Verlegers, wo die Mütter und Erzieherinnen
zahlreich sich einfinden, um seine Bücher zu kaufen, — alle Weinen¬
den, die zwischen diesen beiden Polen liegen, aufzuzählen, wäre eine
Arbeit, bei der einer Herkuleöbrust der Athem ausginge. Und was
hätte ich nicht zu thun, wenn ich, um meinem Aufsatze ein wissenschaft¬
liches Ansehen zu geben und meine Eigenschaft als systematischer Deut¬
scher nicht zu verläugnen, die Thränen in Abtheilungen bringen
wollte?

Es giebt Leute, welche bei dem allergemeinsten Ereignisse ihres
hausbacken-prosaischen Lebens Thränenströme vergießen. Ich bin
überzeugt, daß Jedermann schon, nicht ein, sondern unzählige Male,
guten, dickbäuchigen Familienvätern begegnet ist, deren Wangen so
glatt sind, so von Gesundheit strotzen, so heiter erglänzen, daß man
darauf schwören möchte, sie seien nie von Thränen durchfurcht wor¬
den. Aber wie trügerisch ist dieser Schein! Man beobachte sie nur
und man wird sehen, wie schnell die Fluth, die von ihren Gefühlen
emporgetrieben wird, ihr Auge netzt. Sie verheirathen heute, nicht
ihre erste, nein, ihre fünfte Tochter — also weinen sie. — Ein klei¬
nes Geschäft zwingt sie, den Kirchthurm ihres Geburth- und Wohnorts


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[0258] daß sie im Laufe von sechs Herbst- und Wintermonaten doch nur etwa zehn Zoll Wasser auf die Köpfe bekommen haben. Ich wünschte, die Verfasser dieser Berechnung hätten sich in ihren Mußestunden dem Studium der moralischen Feuchtigkeitsmessung ergeben: — wir würden ihnen zu ihrer Genugthuung erlauben, hiefür eine neue Wissenschaft, Laerymo-Hygro-metrie, zu erschaffen — und ich bin über¬ zeugt, das Resultat einer solchen Berechnung würde meine Behaup¬ tung nur allzusehr bestätigen. Wollte ich hier alle jene Menschenklassen mustern, die cor-im jo>nie> weinen und in einer zur Schau getragenen Empfindsamkeit einen gewissen Ruhm suchen, so würde dieser Aussatz eine unabseh¬ bare Länge erhalten. Von dem tugendhaften Menschenfreunde an, welcher wegen der unerschöpflichen Kraft seiner Thränendrüsen und wegen des reichlichen Gebrauchs, den er bei feierlichen Gelegenheiten davon zu machen weiß, das Glück hat, zum Vorstand aller sogenann¬ ten Wohlthätigkeitsgcsettschasten erwählt zu werden, bis zu dem be¬ scheidenen Verfasser rührender Kinderschriftcn, der zu Weihnachten und Neujahr vor Glück stille Thränen vergießt in einer dunklen Ecke des Ladens seines Verlegers, wo die Mütter und Erzieherinnen zahlreich sich einfinden, um seine Bücher zu kaufen, — alle Weinen¬ den, die zwischen diesen beiden Polen liegen, aufzuzählen, wäre eine Arbeit, bei der einer Herkuleöbrust der Athem ausginge. Und was hätte ich nicht zu thun, wenn ich, um meinem Aufsatze ein wissenschaft¬ liches Ansehen zu geben und meine Eigenschaft als systematischer Deut¬ scher nicht zu verläugnen, die Thränen in Abtheilungen bringen wollte? Es giebt Leute, welche bei dem allergemeinsten Ereignisse ihres hausbacken-prosaischen Lebens Thränenströme vergießen. Ich bin überzeugt, daß Jedermann schon, nicht ein, sondern unzählige Male, guten, dickbäuchigen Familienvätern begegnet ist, deren Wangen so glatt sind, so von Gesundheit strotzen, so heiter erglänzen, daß man darauf schwören möchte, sie seien nie von Thränen durchfurcht wor¬ den. Aber wie trügerisch ist dieser Schein! Man beobachte sie nur und man wird sehen, wie schnell die Fluth, die von ihren Gefühlen emporgetrieben wird, ihr Auge netzt. Sie verheirathen heute, nicht ihre erste, nein, ihre fünfte Tochter — also weinen sie. — Ein klei¬ nes Geschäft zwingt sie, den Kirchthurm ihres Geburth- und Wohnorts

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/258>, abgerufen am 23.07.2024.